Zwischen strahlendem Barock und düsterer Mystik

¡Goooool! Der Ball knallt zwischen zwei zierlichen Orangenbäumen, die das provisorische Tor bilden, gegen eine weiße Wand, gefolgt vom mehrstimmigen Jubel. Danach ist der Ball leider nicht mehr einsatzfähig, denn es handelt sich um eine angefaulte Orange, die beim Aufprall zerspringt. Aber es liegen ja noch jede Menge Bälle in dieser abgesehen vom Kindergeschrei ruhigen Gasse des Barrio León im andalusischen Sevilla. Dieses Viertel entstand in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts und war lange wie ein Dorf vor den Toren der Stadt, bis es mit Triana, der Sevillaner Altstadt auf der „falschen“ Flußseite zusammen wuchs. Bis heute hat sich dieser dörfliche Charakter erhalten: kleine, zweigeschossige Häuser in engen Alleen voller Orangenbäume, die leider schon verblüht sind. Auf dem Boden hunderte von Bitterorangen, die entweder zu Bällen oder Marmelade werden.

16.00 nachmittags: Nachdem die Fußball spielende Kinderhorde noch ein Dutzend weiterer Bälle zerstört und sich die Gasse zu beiden Seiten mit merkwürdig vielen Menschen gefüllt hat, ruft der Torjäger, den alle Raúúúl nennen: „Quietos, que ya viene la Virgen“ (Nun aber ruhig, die Jungfrau kommt schon). So ganz stimmt das aber nicht, denn die Jungfrau ist zwar unterwegs bis sie ankommen dauert es noch eine Weile. Trotzdem stehen warten die Zuschauer, die ein Spalier entlang der Gasse Dolores de León bilden, schon jetzt auf die längste Prozession des „Heiligen Montags“ der Semana Santa in Sevilla.

Die Begeisterung der jungen Bruderschaften
Die kleinen Fußballspieler haben sich eingereiht und blicken erwartungsvoll auf das im Sonnenlicht strahlende Leitkreuz der Bruderschaft von San Gonzalo.

Sie ist die jüngste der Laienbruderschaften in Triana, gegründet erst 1942, aber mit über 2.000 Teilnehmern an der Prozession inzwischen die größte. Hinter dem Kreuz folgen die ersten dieser im Andenken an Jesus von Nazareth „Nazarenos“ genannten Demonstranten Gottes. Von Kopf bis Fuß weiß vermummt mit langen Gewändern und unheimlichen Gesichtsmasken, die nur Sehschlitze frei lassen, sehen sie aus wie Nachtgespenster, die sich in diesen sonnendurchfluteten Nachmittag verirrt haben. Doch sie bilden nur die Spitze, die erste von acht langen Prozessionszügen, die sich in den nächsten Stunden zur Kathedrale Sevillas und zurück zu ihrer Kirche bewegen werden. Langsam schreitet die Doppelreihe der Nazarenos vorbei, eine halbe Stunde wird vergehen, bis der leuchtendweiße Strom unterbrochen wird und am Ende der Gasse der erste der beiden „Pasos“ (Altarplattform mit Skulpturengruppen) auftaucht. Genug Zeit für die Zuschauer, die letzten Neuigkeiten mit den Nachbarn auszutauschen, denn Touristen verirren sich fast nie hierhin an den Stadtrand.

Doch plötzlich verstummen alle profanen Gespräche, denn ein überirdisches Strahlen erscheint. Der riesige Paso des Christus von San Gonzalo füllt die Gasse in ihrer ganzen Breite aus – von Orangenbaum zu Orangenbaum.

Die reich mit Engelsköpfen und Heiligenfiguren verzierte Altarplattform wurde erst vor zwei Jahren im neobarocken Stil geschnitzt und frisch vergoldet.

Ihr Glanz, der das Sonnenlicht reflektiert, blendet die Augen. Immer lauter dringt die Musik der Blaskapelle, die den Paso begleitet, zu uns vor. Im Takt der Musik nähert er sich schwankend und wird dann – wir haben Glück! – direkt vor uns angehalten. Sofort gibt es Bewegung unter dem Paso, Dutzende Träger, die hinter schweren Samtvorhängen verborgen sind, krabbeln hervor und greifen nach dargebotenen Wasserflaschen. Eine neue Mannschaft steht neben der Altarbühne zur Einwechslung bereit, alle in T-Shirts mit dem Wappen der Bruderschaft und dem typischen, turbanähnlichen Kopfschutz mit Nackenrolle, um das Gewicht abzufedern. Wenn man weiß, dass dieser 2 Meter breite und 6 Meter lange Paso knapp 3 Tonnen wiegt, steigt die Bewunderung für diese Helden der Semana Santa, von denen jeder mindestens einen Zentner auf den Schultern trägt, noch dazu blind, nur dem Takt der Musik und den Kommandos eines Dirigenten folgend.

So dass unsere Blicke in Ruhe nach oben wandern können, über die Engelsköpfe und geschwungenen Kerzenleuchter hinweg zu den Skulpturen, die uns die dramatische Szene der Verurteilung Christi durch den Hohepriester Kaiphas zeigt. Mit violettem Gewand und gefesselten Händen steht Jesus als Gefangener vor Kaiphas. Ruhig lässt er dessen Anklagen über sich ergehen und schweigt zu allem. Sein schönes Gesicht strahlt zugleich Ergebenheit in sein Schicksal und majestätischen Stolz aus, während die Figur des Kaiphas von grotesker Hässlichkeit ist. Mit hervorquellenden Glotzaugen und langem, zerfranstem Bart redet er wild gestikulierend auf Jesus ein. Fanatismus und heuchlerische Falschheit sprechen aus dieser Fratze. Ihr Schöpfer, der Sevillaner Bildhauer Luis Ortega Bru, wollte in dieser Statue eine symbolhafte Verkörperung des fanatischen Fundamentalisten erreichen.

Einen Menschentyp, den es in jeder Religion gibt, sei es nun ein jüdischer Pharisäer oder ein muslimischer oder christlicher Fanatiker.

Seine Kopfbedeckung, die nicht zufällig wie eine Bischofsmütze aussieht, soll daran erinnern, dass sich Geschichte leider wiederholt, denn in der Katholischen Kirche werden auch heute einige hohe Ämter von Personen bekleidet, die sich durch Heuchelei oder Fanatismus eines Kaiphas auszeichnen. Und solche würden Christus, wenn er heute erscheinen würde, genauso anklagen wie vor 2000 Jahren. Einen spannenden Dialog zwischen Gut und Böse hat Ortega Bru 1975 mit diesen beiden Kontrastfiguren inszeniert. Er hat wohl selbst gespürt, hier ein Meisterwerk geschaffen zu haben, denn in den Sockel der Christusstatue ritzte er die Worte: „Mein Christus für Sevilla“.

Und diese Erlösergestalt wird nun zusammen mit der ganzen Szene wieder emporgehoben. Im Takt der Trommelwirbel gleitet der Paso durch die Gasse – fast wie ein Ruderboot durch einen Kanal. Die Träger von San Gonzalo sind berühmt für ihr Können, sie gelten als die Besten in Sevilla, die Begeisterung des fachkundigen Publikums ist entsprechend und eine Welle von Applaus begleitet den Paso, bis er in die Avenida einbiegt, die zum Guadalquivir führt.

Einige hundert Nazarenos später erscheint auch die „Jungfrau des Heils“ am Ende des Prozessionszugs und auch diesmal haben wir Glück.

Auch sie entscheidet sich, direkt vor unseren Augen eine Pause einzulegen. Ganz in Weiß thront sie wie eine Frühlingsgöttin unter transparentem Baldachin. Auch diese schöne Skulptur der „Madonna“ ist ein Spätwerk von Ortega Bru (1977). „Guapa!“ – „Du Hübsche!“, rufen ihr zwei der kleinen Fußballspieler zu, als der Paso schwankend hoch gehoben wird. Nach ein paar Minuten verschwindet auch der weiße Mantel der Jungfrau zwischen den Bäumen und die Gasse gehört bald wieder den Orangen tretenden Kindern.

17.00 am Stadttor Postigo im Stadtviertel Arenal. Hier erwarten wir die zweitgrößte Prozession des Tages, an der auch fast 2.000 Nazarenos teilnehmen. Viele von ihnen sind schon unter dem Torbogen an uns vorbei defiliert. Sie tragen weiße Gewänder und schwarze Kapuzenmasken und gehören zur Bruderschaft Santa Genoveva. Diese hat einen noch weiteren Weg zurück zu legen als San Gonzalo, denn sie kommt aus dem Stadtviertel Tiro de Línea, das bis Mitte des 20. Jahrhunderts ein Dorf im Süden Sevillas war und von der sich ausbreitenden Stadt geschluckt wurde.

Fast 14 Stunden sind diese Nazarenos insgesamt unterwegs. Auch sie gehören einer jungen Vereinigung an, Santa Genoveva wurde 1956 gegründet und feiert in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag. Die Gründung der Bruderschaft erfolgte damals unter dem idealistischen Motto „Por un mundo mejor“ – „Für eine bessere Welt“. Dieser Schriftzug erscheint auch auf den Standarten, die in der Prozession mitgeführt werden. Ähnlich wie im Fall von San Gonzalo gibt es auch im Randviertel Tiro de Línea eine enorme Begeisterung für die Semana Santa. Die „Euphorie der Peripherie“ könnte man dieses Phänomen nennen. Mit bescheidenen Mitteln und viel Idealismus haben die Einwohner dieses Vororts an ihrem Projekt gearbeitet. Und am Heiligen Montag ist jedes Jahr das ganze Viertel – circa 5.000 Menschen – auf den Beinen, entweder als Nazarenos in der Prozession oder unverkleidet daneben, um Ihn auf seinem Weg zu begleiten: „Jesus als Gefangener in seiner Verlassenheit“ (El Cautivo).

In diesem Moment wird der vergoldete Paso vorbei getragen. Auf einem Hügel von blutroten Nelken steht Jesus mit über Kreuz gefesselten Händen.

Voll stoischer Schicksalsergebenheit hat er den Blick meditativ ins Leere gerichtet, als würde er die riesige Zuschauermenge nicht wahrnehmen. Diese Christusstatue mit traurigem Blick kontrastiert mit der fröhlichen Volksfeststimmung des Publikums am sonnigen Nachmittag. Eine beklemmende Darstellung der Einsamkeit des zum Tode verurteilten und von allen Freunden verlassenen Erlösers. Doch vier Engel – die Eckfiguren des Pasos – begleiten ihn nach Golgotha. Und ein ganzes Stadtviertel folgt ihm und fühlt sich für einen Tag nach Jerusalem versetzt.

Der Kuss des Verräters
19.00. Wir müssen jetzt laufen, um noch rechtzeitig den Ausgang der Kathedrale zu erreichen, wo im nächsten Augenblick der monumentale Paso der Bruderschaft von El Rocío (gegründet 1955) heraus getragen wird. Ein Strom von weiß gekleideten Nazarenos mit violetten Kapuzenmasken kommt uns schon entgegen und dumpfe Trommelwirbel kündigen an, dass die Altarbühne in wenigen Sekunden in der dunklen Portalöffnung erscheinen wird. Ein Gedränge setzt unter den Zuschauern ein, jeder will so weit wie möglich nach vorne. Unsere überdurchschnittliche Körpergröße ist jetzt ein willkommener Vorteil.

Alle sind gespannt auf den neobarocken Paso aus brasilianischem Mahagoniholz, der im vergangenen Jahr geschnitzt wurde und zum ersten Mal durch Sevilla getragen wird.

Angestrengt blickt die Menge zum Portal. Zuerst sieht man die hohen, verschnörkelten Kerzenleuchter aus reinem Gold in der finsteren Türöffnung, dann erkennen wir die erste Skulptur: Christus im blendend weißen Gewand. Im nächsten Moment eine Trompetenfanfare und Jesus tritt heraus ins Tageslicht. Stück für Stück schiebt sich der Paso nach draußen, immer mehr Figuren erscheinen auf der Bühne, zum Schluss ein echter Olivenbaum von beträchtlicher Größe. Dann setzt Marschmusik ein und schwankend wird der Paso unter dem Applaus des wogenden Publikums vorwärts getragen. Er stellt die Szene des Judaskusses und Verrats im Garten von Gethsemani dar. Erst jetzt entdecken wir Judas, der mit dunklem Gewand im Schatten der Lichtgestalt Jesus steht und zum Bruderkuss ansetzt. Doch diesmal bedeutet der Kuss des abtrünnigen Verehrers nur Verrat. Sein falsches Mienenspiel mit den kalten blauen Augen steht in scharfem Kontrast zum schönen Gesicht Christi, der unbeweglich dem unausweichlichen Schicksal ins Auge sieht. Nur die vor Schmerz gekrümmten Augenbrauen verraten seine innere Erregung, die Enttäuschung über den Verräter. Hinter Christus steht sein Lieblingsjünger Johannes mit leuchtend rotem Umhang. Er streckt den Arm nach seinem geliebten Meister aus, versucht den Verrat zu verhindern, doch die Passion geht ihren Weg.

Nach kurzer Atempause für die Träger wird die schwere Bühne nach dem vom Führer des Paso gerufenen Kommando „Vámonos, hijos!“ – „Kommt, meine Söhne!“ mit einem Kraftakt nach oben gestemmt und das Drama des Verrats am Ölberg wandert weiter. Eine Welle der Begeisterung begleitet die Prozession von El Rocío, der Applaus übertönt die Musik. Bei manchen Zuschauern scheint das Interesse für Details dieses Spektakels – wie die Kunst, die tonnenschwere heilige Last möglichst elegant vorwärts zu bewegen – größer zu sein als die Kenntnis der dargestellten Passionsszene. Da vergleicht man lieber die Performance verschiedener Trägermannschaften – meist mit dem Ergebnis, dass die der eigenen Bruderschaft doch die beste ist.

Der Heilige Gral in Sevilla
20.00 in der Calle Gamazo. Die blaue Stunde kurz nach Sonnenuntergang. Die Nacht ist noch nicht angebrochen, aber der Himmel über Sevilla hat sich verwandelt von tiefblau zu einem mystischen blau-violett. Passend zur geheimnisvollen Szene der nächsten Prozession, die wir hier erwarten. Die ersten der 700 Nazarenos der Bruderschaft Las Aguas schreiten in einer Doppelreihe ans uns vorbei, ihr Kerzenlicht bringt das lila Samt ihrer Masken zum Glänzen. Diese Bruderschaft ist heute die erste, die deutlich vor dem 20. Jahrhundert entstand. Gegründet 1750, bezieht sich ihr Name auf Wasser und Blut Christi, das nach dem Lanzenstoß aus seinem toten Körper hervorquoll und in einem goldenen Kelch – dem Heiligen Gral – aufgefangen wurde.

Ein Trompetensolo setzt ein. Der Trompeter trifft zwar nicht jeden Ton, spielt aber dafür mit soviel andalusischer Leidenschaft und Hingabe, dass er die ganze Straße in Verzückung versetzt und einigen Zuschauern, besonders den weiblichen, ein spontanes Olé! entlockt. Ob das auch daran liegt, dass er bildschön ist wie ein dunkler Engel, kann nicht geklärt werden.

Denn wer weiß schon, auf was das Publikum bei dieser Flut von sinnlichen Eindrücken am meisten achtet?

In den nächsten Minuten richten sich alle Blicke auf den spektakulären Paso von Las Aguas, der vor uns zum Stehen gekommen ist. In seiner Mitte erhebt sich das Kreuz mit dem toten Jesus, darunter haben sich die trauernde Mutter Maria und seine Lieblinge Magdalena und Johannes sowie ein Engel als intime Trauergemeinschaft versammelt. Es ist die erste Darstellung eines Gekreuzigten am heutigen Tag – ein Zeichen, dass es nach der fröhlichen Stimmung am Nachmittag nun langsam ernst wird. Minutenlang hält der Paso an, so dass die flüsternde Menge die ergreifende Szene mit dem Heiligen Gral betrachten kann.

Das Kerzenlicht strahlt intensiver gegen die aufziehende Dunkelheit und beleuchtet die Figurengruppe auf der sakralen Bühne. Der Engel kniet nieder und hält in der rechten Hand den goldenen Kelch, mit dem er Blut und Wasser aus der Wunde des Erlösers sammelt. Christus hängt schon leblos am Kreuz, sein Kopf ist zur Seite gesunken, das Haar fällt lang herab. Maria, Johannes und Magdalena stehen in exakt gleichen Abständen links und rechts sowie hinter dem Kreuz, sie formen ein mystisches Dreieck, in dessen Zentrum das Kreuz empor ragt: Geometrische Mystik, entworfen von der Dramaturgie der Semana Santa. Während die Schmerzensmutter den Blick in Trauer zu Boden senkt, blicken Johannes und Magdalena in stummer Verzweiflung nach oben, zu ihrem toten Geliebten. In diesem Augenblick werden alle zusammen in den Himmel gehoben und der Paso bewegt sich weiter in die Nacht hinein.

Eine halbe Stunde später erscheinen Lichtpunkte am Ende der Gasse. Wir haben wieder Glück, denn auch der Paso der Jungfrau von Guadalupe wird genau vor uns angehalten.

Auf einem silbernen Podest geschmückt mit weißen Rosen, thront sie umrahmt von Leuchtern unter einem Baldachin aus blauem, goldbesticktem Samt. Ihr Name bezieht sich auf ihre berühmte Namensvetterin in Mexiko und jedes Jahr vertritt ein Repräsentant die Stadt Mexiko hier in der Prozession in Sevilla. Gebannt starren alle auf das Gesicht dieser Lichtgestalt unter dunklem Baldachin. Kaum zu glauben, dass der Sevillaner Bildhauer Luis Álvarez Duarte diese wunderschöne Madonna 1967 im Alter von nur 16 Jahren geschaffen hat.

Ein Rebell und sein geheimnisvoller Geniestreich
22.00 auf der Plaza de San Andrés. Eine riesige Menschenmenge erwartet die Rückkehr der Prozession von Santa Marta, der 1946 vom Gremium der Hotelbesitzer Sevillas gegründeten Bruderschaft. Obwohl sie in diesem Jubiläumsjahr erst 60 Jahre alt wird und im Vergleich zu anderen keine lange Tradition vorweisen kann, hat sie es geschafft, einen feierlichen Stil zu finden und wirkt wie eine Jahrhunderte alte Bruderschaft. Dies liegt auch daran, dass sie als einzige der im 20. Jahrhundert neu gegründeten an die Tradition der Schweigebruderschaften anknüpft und ganz auf Musik verzichtet. Trotz dieses konservativen Eindrucks übernahm Santa Marta Pionierarbeit in der Gleichberechtigung von Frauen und führte 1987 als erste Bruderschaft Sevillas ein, dass endlich auch Frauen als Nazarenas in der Prozession mitgehen dürfen.

Obwohl gleich der wichtigste Paso des Tages auftauchen wird, will keine sakrale Atmosphäre aufkommen. Doch dann – kaum hörbar zunächst – dringt die Nacht der Laut einer Totenglocke. Noch scheint niemand ihren Klang wahrzunehmen. Doch wieder sendet der Glockenturm von San Andrés das gleiche Signal. Da ertönt unten am Fuß des Platzes ein seltsames, zur Ruhe mahnendes Zischen, das wie eine Welle von unten nach oben, bis zur Kirchenmauer am Ende des Platzes gleitet, wo wir stehen. Allmählich wird das Publikum leiser und die Totenglocke dominiert die Geräuschkulisse. Plötzliche sehen wir ein glänzendes Kreuz, das wie von selbst am Rand des Platzes emporschwebt. Sekunden später erkennt man, dass es getragen wird – von einem Nazareno, der in tiefstes Schwarz gehüllt ist. Es folgen 850 ebenfalls schwarz Vermummte ohne Unterbrechung. Denn Santa Marta hat nur einen Paso ganz am Schluss der Prozession.

Feierlich schreiten die Nazarenos den Platz entlang, auf dem es jetzt ruhig geworden ist. Wie von einem unsichtbaren Seil gezogen, gleitet der goldglitzernde Paso von Santa Marta auf uns zu.

Die Balkone über uns sind zum Bersten voll und wir sind etwas neidisch, denn von dort oben sieht man die Bühne mit dem ausgebreiteten Körper des toten Jesus am besten. Die Szene zeigt die Grablegung Christi durch Nikodemus und Josef von Arimathea, während die Mutter Maria, die heilige Martha, Johannes und die drei Marias (Magdalena, Maria Salomé und Maria Kleophas) in dumpfer Trostlosigkeit Zeugen dieses endgültig scheinenden Abschieds sind. Es ist merkwürdig: im Gegensatz zu den meisten anderen Pasos gibt es – außer bei der Jungfrau – hier keine Tränen in den Gesichtern der Statuen. Und doch wirkt ihre Trauer viel tiefer und dramatischer.

Es ist ein Geheimnis um diesen Paso von Santa Marta. Die Intensität der Darstellung ist kaum auszuhalten. Es ist, als habe hier jemand den Schmerz über den Tod seines eigenen Sohnes, den Schmerz seiner eigenen Mutter oder Geliebten ins Holz eingraviert. Luis Ortega Bru, der Schöpfer dieser Szene und bedeutendste Sevillaner Bildhauer des 20. Jahrhunderts, sagte selbst, dass er die Ausdruckskraft dieser 1953 vollendeten Skulpturengruppe niemals vorher oder nachher mehr erreicht hätte. Und nie hätte er eine so starke göttliche Inspiration gespürt wie bei diesem Werk. Ortega Bru hatte aber zu jenem Zeitpunkt auch unfreiwillige Inspiration für die Darstellung von extremer Trauer gesammelt. Geboren 1916 in einem Dorf bei Cádiz, kämpft er zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs mit nur 20 Jahren auf der Seite der Republikaner und büßt durch eine Kriegsverletzung einen Teil seines Hörvermögens ein. Seine Mutter, ebenfalls Anhängerin der Republikaner, wird 1936 von den Faschisten erschossen. Nur drei Jahre später, nach dem Ende des Bürgerkriegs, wird auch sein Vater vom Franco-Regime hingerichtet, das Vermögen der Familie konfisziert und Ortega Bru selbst zum Tode verurteilt. Ein paar Monate später wird er begnadigt zu Lagerhaft in einem Konzentrationslager bei Algeciras. Seit Ende 1944 lebt er als freier, aber vom Schicksal gezeichneter Künstler in Sevilla, wo er 1982 stirbt.

Schon als Kind hatte er Engel und Madonnen geschnitzt und noch vor dem Bürgerkrieg ein Kunststudium begonnen. Vielleicht war es sein künstlerisches Genie, das ihn rettete und seine Gefangenschaft verkürzte. Denn im KZ vollendet er eine Christusstatue, mit der er sich für einen Kunstpreis bewirbt – und gewinnt! Den Menschen Ortega Bru konnte man einsperren und demütigen, aber selbst das Franco-Regime konnte den Künstler Ortega Bru nicht ignorieren. Für diesen Paso von Santa Marta erhielt er 1954 die höchste Auszeichnung: den spanischen Nationalpreis für Bildhauerei. Mit seiner hyperrealistischen Darstellung des Erlösers, dessen toter Körper zu Grabe getragen wird, knüpft Ortega Bru an die große Tradition des Sevillaner Barocks an.

Jeder Muskel, jede Ader, jedes anatomische Detail bis hin zu den in Leichenstarre bizarr gekrümmten Händen und den starr blickenden Augen sind hier im Holz verewigt.

Doch es ist nicht nur die geniale Christusfigur im Zentrum der Altarbühne, die das Publikum fasziniert. Es ist die ganze Komposition des Ensembles, die in ihrer Harmonie kaum zu übertreffen ist. Die sechs von dem andalusischen Künstler geschaffenen Statuen (Johannes, Nikodemus, Josef von Arimathea, Magdalena, Maria Kleophas und Maria Salomé) sehen sich so ähnlich, als ob sie alle einer verschworenen Gemeinschaft, einer geheimen Familie angehören würden. Sie haben die gleichen sinnlichen Lippen, hohe Backenknochen und den gleichen Ausdruck in den Augen. Es sind keine Tränen zu sehen, aber sie blicken tränenerfüllt. Diese Augenpaare erinnern an die typischen Gemälden von El Greco – auch in ihrer mystischen Eindringlichkeit. Doch die Blicke dieser trauernden Freunde von Jesus treffen sich nicht, jede der Figuren blickt in eine andere Richtung. Sie trauern gemeinsam und doch jeder für sich allein.

Es ist schade, dass diese wunderbare Szene viel zu schnell an uns vorbei getragen wird. Wir erfassen wie durch Schlaglichter erhellt die Geniestreiche dieser Figurengruppe: die altersgebeugte Weisheit des Josef von Arimathea, der mit halb geöffnetem Mund ein Gebet zu murmeln scheint, die jugendliche Kraft des Nikodemus, die durch seine Schwermut gelähmt scheint, der stumme Verzweiflungsschrei der Maria Salomé, die einen leeren Blick in den Himmel schickt, die verloren blickenden Augen des Johannes zwischen Resignation und rebellischem Stolz, die verweinten Augen der wunderschönen Magdalena – in der Ortega Bru seine eigene Frau verewigt hat. Sie zeigt auf das Wundmal in der leblosen Hand Christi. Dort wo sein Blut herunter tropfte, erblüht eine mystische Rose inmitten der Lilien.

Selten wurde in einem Kunstwerk soviel schwermütige Schönheit vereint wie in diesem Paso von Santa Marta, dem bedeutendsten Opus der Semana Santa im 20. Jahrhundert. Hier hat der Künstler alle Tragödien seines noch jungen Lebens verarbeitet – und demonstriert, dass er in seiner Enttäuschung über die Menschen nicht den Glauben an Gott verloren hat. Der Erfolg seiner Kunst war auch ein Akt stolzer Rebellion gegen das Regime, das seine Eltern ermordet lies.

Finstere Gestalten um Mitternacht
0.00 in einer Straße, die den kuriosen Namen „Jungfrau der guten Bücher“ trägt. Einen solchen Straßennamen kann es wohl nur in Sevilla geben. Die Beleuchtung ist abgeschaltet, die enge Straße liegt im Dunkeln. Direkt vor uns ein schwarzes Kreuz mit den Worten „Toma tu Cruz y Sígueme“ (Nimm Dein Kreuz und folge mir nach). Es folgen düstere Impressionen: hunderte von Büßern, ganz verhüllt mit pechschwarzen Gewändern und Kapuzen nehmen das Motto der Bruderschaft Vera Cruz wörtlich und schleppen schwere Holzkreuze auf ihren Schultern. Fast alle gehen barfuß und es herrscht absolutes Schweigen. Ein unheimliches Bild, wie diese schwarzen Gestalten im bleichen Licht des Vollmonds dahin ziehen wie zu ihrer eigenen Hinrichtung.

Die Prozession von Vera Cruz, der Bruderschaft vom Wahren Kreuz, zeichnet sich durch asketischen Stil aus und wird mit dem größten Ernst dargeboten. Mit nur 600 Nazarenos ist sie die kleinste am heutigen Tag. Schon nähert sich lautlos der kleine Paso, der sich wie die ganze Prozession an die Regel völliger Schlichtheit hält. Nur spärlich beleuchtet durch vier Altarkerzen, ohne Goldglanz, aber kunstvoll geschnitzt aus schwarzem Ebenholz.

Auf einem Hügel violetter Lilien steht das Kreuz, an dem die älteste und einzige gotische Statue der Sevillaner Semana Santa hängt. Sie entstand um 1480 und ist deutlich kleiner als die Barockskulpturen anderer Prozessionen. Rasch wird der Paso um die Ecke getragen, eine flüchtige Vision des Todes in der Vollmondnacht, gefolgt von schwarzen Schatten.

Da entdecken wir endlich Licht am Ende der Gasse. Die Kerzenpyramide der „Jungfrau der Traurigkeiten“ wird langsam heran getragen. Sie hat wirklich einen tragischen Gesichtsausdruck. Tränen haben zwar fast alle Madonnen in Sevilla, aber viele zeigen – wie die Macarena – zugleich den Anflug eines Lächelns. Aber diese hier senkt den Blick zur Erde und scheint in düsterer Trauer zu versinken. Dabei ist sie, entsprechend dem Stil der Bruderschaft, von dunklen Farben – schwarz und nachtblau – umgeben. Wie eine Klagegöttin, einsame Verkünderin der Nacht von Golgotha, steht sie dort oben. Erstaunt hören wir ein dumpfes Flüstern, unheimlich nah. „Ave Maria, gratia plena…“ Wir brauchen ein paar Sekunden, bis uns klar wird, es sind die Träger, die unterm Paso hinter Samtvorhängen verborgen den Rosenkranz beten. Gespenstisch wie aus einer Gruft dringt dieses Gemurmel zu uns, das jetzt beendet wird, denn das dritte Klopfen des Capataz, der den Paso führt, ist das Signal, den Weg fortzusetzen. Man hört nur das Knirschen des Baldachins und der schwarze Samtmantel verschmilzt mit der Nacht.

Heute hat die Bruderschaft nur wenige Anhänger. In Sevillas Goldenem Zeitalter im 16. und 17. Jahrhundert war Vera Cruz jedoch die wichtigste und zu ihren Mitgliedern gehörte jeder, der Rang und Namen hatte: Adlige und berühmte Künstler wie der Maler Murillo und der Dichter Rodrigo Caro. Gegründet wurde sie 1448 und wäre damit die viertälteste Bruderschaft Sevillas. Aber es gab einen dunklen Punkt oder vielmehr eine Lücke in ihrer Geschichte. Seit 1649 verlor sie an Bedeutung und Mitgliedern, offenbar hatte die große Pest sie besonders hart getroffen. Seitdem verlief der Niedergang immer dramatischer, bis in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Heilige Woche mehrfach ohne Vera Cruz stattfand. Alarmiert durch die Tatsache, dass die Bruderschaft keine Prozession mehr organisieren konnte, rief der Erzbischof von Sevilla 1924 zur großen Krisensitzung und es erschien – niemand! Damit erklärte er die Vereinigung für „erloschen“. Doch 1942 wurde die Bruderschaft unter gleichem Namen neu gegründet und seitdem wird das Wahre Kreuz wieder durch Sevilla getragen.

Die Invasion der Englein
1.00 in der Calle Cardenal Cisneros. Es zieht eine weitere „finstere“ Prozession vorüber. Die Nazarenos der 1875 gegründeten Vereinigung Las Penas de San Vicente gehen ganz in Schwarz. Aber es geht nicht so streng zu wie bei Vera Cruz, die Atmosphäre – auch unter den Zuschauern – ist lockerer. Und Musik gibt es auch, denn leise Oboenklänge verraten, dass der erste Paso nicht mehr fern ist. Ein diffuses Leuchten zwischen den Orangenbäumen, dann erkennt man eine prunkvolle Laterne aus Silber, darunter ein niedliches Englein, das seine Hände nach dem Licht ausstreckt.

Dann rückt mit einem Schritt die ganze mit roten Nelken übersäte, goldstrahlende Plattform ins Bild, geschmückt mit einer Invasion neobarocker Englein, die überall herum purzeln.

Auf der Bühne fällt zuerst das pompöse Kreuz ins Auge, das im 17. Jahrhundert in Mexiko aus Silber und Perlmutt hergestellt wurde. Alles an dieser Altarbühne ist glitzernde Pracht, die fast ablenkt von der Hauptfigur: dem Jesus der Leiden. Diese Christusfigur kniet, zusammengebrochen unter der Last des Kreuzes. Die Statue des Erlösers gilt als eines der letzten Werke des großen Barockbildhauers Pedro Roldán (ca. 1690) und verdient alle Aufmerksamkeit. Mit seinen schönen, leicht orientalischen Gesichtszügen wirkt dieser Jesus wie ein maurischer Prinz.

Im Haus gegenüber öffnen sich die Fensterläden, wir sehen eine einsame alte Frau hinter dem Fenstergitter des kleinen Balkons. Ihre rechte Hand mit welker Haut krampft sich um einen der Gitterstäbe, mit der linken Hand versucht sie, das Kreuz zu berühren. Zitternd hebt sie die Hand wieder, um ein paar Tränen abzuwischen. Wir schätzen ihr Alter auf etwa 80. Wie viele Heilige Wochen hat sie schon miterlebt? Vielleicht hat sie als junges Mädchen, an der Hand ihres Freundes, die Semana Santa vor allem als Frühlingsfest genossen, während sie jetzt beim Anblick der Pasos an Tod und Vergänglichkeit des eigenen Lebens erinnert wird. Oder sie denkt gerade an Freunde, mit denen sie früher diese Woche gefeiert hat und die schon längst verstorben sind. Sie stützt sich auf das Fenstergitter, während sie dem nach Golgotha ziehenden Christus nachblickt. Sie öffnet ihren Fächer und fächelt sich die nach Blüten duftende Nachtluft zu, wartet noch einen Moment, bevor sie die Fensterläden wieder schließt.

Der Christus der Silberschmiede
3.00 auf dem Platz vor dem Museum der Schönen Künste. Die Kühle der Nacht wird jetzt spürbar, während die 1000 Nazarenos der letzten Prozession des Tages im Portal der Kapelle gegenüber verschwinden. Ihre Schritte sind schleppend, müde vom sieben Stunden langen Gang zur Kathedrale. Auch sie sind ganz in Schwarz gehüllt. An einem Tag der Kontraste, der am lichtdurchfluteten Nachmittag farbenfroh begann, haben nach Einbruch der Dunkelheit die Farbe Schwarz und eine mystisch-meditative Stimmung das Zepter übernommen. Diese letzte Bruderschaft des Heiligen Montags, von den Sevillanern El Museo genannt, wurde schon 1575 von der Zunft der Silberschmiede gegründet.

Plötzlich setzt Gedränge ein, schon nähert sich die Altarbühne mit dem Christus, schweigend wird er getragen. Klein ist dieser Paso, aber künstlerisch wertvoll. Auf einem Hügel roter Nelken der Schatten des Gekreuzigten, in dem Moment, als er sein Leben aushaucht. Ein Meisterwerk des Sevillaner Renaissance-Bildhauers Marcos Cabrera (1575), der in seinem bewegten, emotional mitreißenden Stil schon den Barock vorweg nimmt. Cabrera schuf eine Statue, die sich in Todesqual windet, beinahe ein „S“ formt und alle Glieder anspannt in einer letzten Rebellion gegen den Tod. Fast expressionistisch scheint die Skulptur in ihrer bizarren, verdrehten Körperhaltung und dem vom Todesschrei verzerrten Gesicht.

Nachdem der sterbende Christus in der Kapelle verschwunden ist, gibt es zum Abschluss doch noch einen Lichtblick in der düster gewordenen Frühlingsnacht.

Umringt von flackernden, herunter gebrannten Kerzen, zieht die „Jungfrau der Wasser“ an uns vorbei, begleitet von einer Welle des Jubels.

Ein Aufatmen geht durch die Menge. Wie immer während der Semana Santa in Sevilla steht die hier zur Frühlingsgöttin erhobene Jungfrau Maria für die Wiedergeburt, die auf den Tod des Gekreuzigten folgt. Applaus brandet auf, als die Träger sie ein letztes Mal tanzen lassen, im Kreis drehen, bevor sie sich verabschiedet – mit dem Gesicht zum Publikum. Das Kirchenportal schließt sich vor ihrer Kerzenpyramide, die letzten Töne der Musik gehen unter in der aufbrausenden Geräuschkulisse. Die Vorstellung ist vorbei, die Zuschauer zerstreuen sich, manche summen auf dem Heimweg die Melodien der Trauermärsche, die gar nicht mehr traurig klingen.