Verloren im Paradies

„Spürst Du die feuchte Kälte des Bodens? Und das, obwohl wir jetzt in der Trockenzeit sind!“ Alberto Dines geht die Stufen zur verglasten Eingangsveranda des Hauses hoch. Er schaut auf die mit dem dichten grünen Urwald der Mata Atlântica bewachsenen Hügel über Petrópolis. „Genau hier ziehen die vom Meer kommenden Nebelwände hinauf. Das Klima kann furchtbar sein.“

Petrópolis ist nicht gerade das, was man eine aufregende Stadt nennen würde. Aber solange die Sonne scheint, kann man es sich in den zahlreichen Parks der ehemaligen Sommerresidenz des brasilianischen Imperador gut gehen lassen. Die Stadt hat wie kaum eine andere in Brasilien europäisches Flair, mit altehrwürdigen Prachtvillen und Alleen gleichenden Straßen. Doch sobald die Sonne unter geht, fällt die Stadt in einen tiefen Schlaf.

Im August 1936 schifft sich Stefan Zweig auf dem Ozeanliner Alcântara ein. Er ist auf dem Weg zum Treffen des PEN-Clubs in Buenos Aires und auf dem Höhepunkt seines literarischen Ruhmes. Doch trübe Vorahnungen erfüllen ihn. „Ich bin glücklich, die Ungewissheit, Unruhe und Unsicherheit in Europa verlassen zu haben“, sagt er später einem brasilianischen Reporter.

Am 21. August 1936 erreicht Zweig Rio de Janeiro, die Zwischenstation auf seiner Reise nach Argentinien. Er ist überwältigt von der traumhaften Einfahrt in die Guanabarabucht. Und an den Kais der Stadt erwartet ihn bereits das offizielle Brasilien. Man feiert ihn, seine Bücher verkaufen sich sensationell gut. Man reicht ihn weiter von einem Empfang zum nächsten. Mit solch begeisterter Aufnahme hatte er nicht gerechnet.

Und er lässt sich von der Freundlichkeit des Vargas-Regimes blenden. Denn nicht nur in Europa ziehen autoritär-totalitäre Zeiten auf. Auch Brasilien nähert sich diesen mit Riesenschritten, allerdings mit seinem ihm eigenen Hang zur tropischen Inkonsequenz. So schlimm wie in vielen Ländern Europas wird es im Estado Novo von Getulio Vargas nicht werden. Doch auch hier sollen in naher Zukunft die Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers mit Füssen getreten werden. Und die kleine jüdische Gemeinde in Brasilien leidet schon jetzt unter der Diskriminierung durch die Regierung.

Doch dies erkennt der Jude Zweig inmitten des Jubels und Trubels um seine Person nicht. Stattdessen unternimmt er einen Tagesausflug in das gut 70 Kilometer oberhalb von Rio gelegene Petrópolis und ist tief beeindruckt von der durch den Habsburger-Abkömmling Dom Pedro II. gegründeten Stadt. Ein Miniatur-Wien inmitten der Tropen. Vielleicht fühlt er sich ein wenig in sein geliebtes Wien der Jugendzeit zurück versetzt. Das Wien der K-und-K-Monarchie, die Weltmetropole der Vorkriegszeit, der er sehnsüchtig nachhängt und die ihm für immer verloren scheint.

Nach zwei Wochen in Brasilien reist Zweig weiter nach Buenos Aires. Während des PEN-Kongresses versucht er zwischen den radikalen linken Schriftstellern und den Pazifisten, denen er angehört, zu vermitteln. Umsonst. Ernüchtert verlässt er Argentinien. Auf der Rückfahrt nach England besucht er Ende September noch kurz Recife. Dann geht es zurück ins selbst gewählte englische Exil, wo er drei Jahre später den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges miterleben muss.

„Das zweite Stockwerk gab es zu Zweigs Zeiten noch nicht und die Verglasung der Eingangsveranda auch nicht.“ Alberto Dines inspiziert das kleine weiß gestrichene Haus. Von der Veranda kommt man in ein etwa 25 Quadratmeter großes Hauptzimmer.

Nach links geht es zu zwei kleinen Räumen mit angeschlossenem Badezimmer. Nach rechts kommt man in die kleine Küche. Alles ist äußerst schlicht und eng. Nichts erinnert daran, dass hier einst ein wohlhabender Schriftsteller, einer der ganz großen der Weltliteratur, gelebt hat. „Wir werden den zweiten Stock abreißen. Alles soll wieder so werden, wie es ursprünglich war.“ Noch ist Dines auf der Suche nach den Originalbauplänen des Hauses. Auf deren Grundlage wird beschlossen, was abgerissen und was stehen bleiben soll. Dass die Betongarage vor dem Haus weg muss, steht aber bereits fest.

Auf den Tag genau vier Jahre nach seiner ersten Ankunft in Rio erreichen Zweig und seine zweite Ehefrau Lotte an Bord der Argentina die Stadt am Zuckerhut. Diesmal haftet seinem Wunsch, zurück zu kehren in das Land mit den „riesigen Schmetterlingen“, etwas von Flucht an. Vielleicht denkt er sich, dass er hier, 10.000 Kilometer entfernt von den Schrecken des Krieges und der Verfolgung in Europa, Sicherheit findet. In Brasilien hat Vargas mittlerweile den autoritären Estado Novo installiert und nicht wenige Mitglieder der Führungsriege befürworten eine Allianz mit den in Europa bisher so siegreichen Nazis.

Doch Zweig hat kein Interesse, zu sehr an der freundlichen Oberfläche seiner neuen Heimat zu kratzen. Vielleicht hätte es seine vom Untergang Europas gepeinigte Seele nicht ertragen können, erneut eine neue Hoffnung sterben zu sehen.

So ist er Brasilien wohl geneigt, jenem Land, das ihm ohne Probleme Aufenthaltspapiere ausstellt, während gleichzeitig tausenden anderen europäischen Flüchtlingen die Einreise verwehrt wird.

Zu Beginn des Jahres 1941 bereisen Zweig und Lotte in acht Tagen eilig den Norden und Nordosten Brasiliens. Dann geht es weiter in die USA. Dort stellt er sein Buches „Brasilien – ein Land der Zukunft“ fertig. Obwohl er bisher nur wenige Wochen in Brasilien verweilte, fühlt er sich berufen, eine Lobeshymne auf das tropische Land zu schreiben – wohl mehr Wunschdenken als Realitätsbeschreibung. Ursprünglich gab Zweig dem Buch den Titel „Brasilien – Ein Land der Zukunft“, doch sein cleverer brasilianischer Herausgeber Abrahão Koogan nimmt den Artikel aus der Überschrift. Jetzt heißt das Buch „Brasilien – Land der Zukunft“, was dem Land den Stempel der Einzigartigkeit gibt.

In den USA wird Zweig nicht glücklich. In sieben Monaten zieht er fünfmal um. Er wirkt rastlos und melancholisch zugleich. Er kehrt zurück nach Brasilien. Doch mittlerweile hat sich dort die kritiklose Begeisterung für den Schriftsteller gewandelt. Teile der Presse machen sich über ihn lustig oder greifen ihn sogar direkt an. Viele sehen „Brasilien – Land der Zukunft“ als regierungshöriges Werk an, mit dem sich Zweig für seine Aufenthaltspapiere bedankt habe.

Im September 1941 zieht er mit Lotte in das kleine Häuschen in Petrópolis. Die Straße ist nach dem brasilianischen Dichter Gonçalves Dias benannt, dessen bekanntestes Werk der „canção do exílio“ ist, der „Exilgesang“: „Minha terra tem palmeiras, onde canta a sabiá…“.

Hier verfasst Zweig eines seiner bedeutendsten Werke: Die Schachnovelle. Für ihn selber war das kleine Buch nichts weiter als eine Erzählung für Schachliebhaber, wie er einem Freund schreibt.

„Wir wollen den Platz auf der anderen Straßenseite in einen kleinen Park verwandeln“, sagt Alberto Dines. Noch dient er als Sammelstelle für recyclebare Abfälle. Doch in Zukunft sollen hier die Besucher ankommen, wenn das kleine Haus in der Rua Gonçalves Dias einmal umgebaut ist.

Seit Jahren kämpft Dines dafür, mit der „Casa Stefan Zweig“ eine Art Museum und Gedenkstätte für die vor den Nazis geflohenen europäischen Immigranten zu schaffen. Mitten auf dem Platz steht ein kleiner aus Beton gegossener Tisch, in dessen Oberfläche ein Schachbrett eingefasst ist.

Zu Beginn des Jahres 1942 arbeitet Zweig an mehreren Manuskripten. Doch er fühlt sich zunehmend einsam in Petrópolis, tausende Kilometer entfernt von seinen europäischen Freunden und eine Halbtagesreise weit weg von den wenigen Bekannten in Rio de Janeiro. Ihm fehlen der intellektuelle Austausch, eine gut ausgestattete Bibliothek und die Nähe zu seinem Publikum. Er ist gefangen, kann nicht mehr, so wie in den zurückliegenden zehn Jahren, von Ort zu Ort fliehen. Und Lotte leidet in dem feuchten Klima in Petrópolis unter ihrem Asthma.

Am 16. Februar 1942 liest Zweig erschüttert über die Versenkung des brasilianischen Handelsschiffes Buarque durch ein deutsches U-Boot. Zum ersten Mal ist es zu kriegerischen Handlungen zwischen den beiden Nationen gekommen. Der Krieg hat ihn in seinem fernen Paradies eingeholt. Es ist Aschermittwoch. Der Carnaval ist endgültig vorbei. Drei Tage später wird ein weiters brasilianisches Schiff, die Olinda, von den Deutschen vor der Küste der USA versenkt. „Ich bin am Ende. Jetzt kann der kleinste Tropfen das Fass zum Überlaufen bringen“, hat Zweig in diesen letzten Tagen einem Freund anvertraut.

Gegen 16 Uhr des 23. Februar finden die Hausangestellten die Leichen von Stefan Zeig und seiner Ehefrau Lotte im Schlafzimmer des Paares. Zweig liegt auf dem Rücken, seine Hände sind auf seiner Brust gefaltet. Lotte hat sich an seine linke Schulter angelehnt. Ihre linke Hand umfasst seine rechte. Die Untersuchungen ergeben, dass Zweig das Gift zuerst genommen hat. Lotte hat wahrscheinlich gewartet, bis sie sicher sein konnte, dass ihr Gatte tot war und sich dann selber vergiftet. Zweig hat genau 315 Tage seines Lebens in Brasilien verbracht.

In seinem Abschiedsbrief, den Zweig mit dem portugiesischen Wort „Declaração“ überschrieben hat, verabschiedet er sich von dieser ihm keine Heimat mehr bietenden Welt:

„Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.“

Fotos: Thomas Milz

Mit besonderem Dank an Alberto Dines, der eine vorzügliche Biografie über Stefan Zweig vorgelegt hat.

Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig
Gebundene Ausgabe: 724 Seiten
Verlag: Edition Büchergilde; Auflage: 1 (1. September 2006)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3936428646
ISBN-13: 978-3936428643