Latino-Retrosound (08/2012)

Die Retrowelle hat längst auch lateinamerikanische Musikstile erfasst, wie die beiden folgenden Produktionen von in den USA beheimateten Bands zeigen.

„Sergio Mendoza y La Orkesta“ haben sich nichts geringeres als die Rettung des Mambo auf die Fahnen geschrieben, indem sie ihn mit ihren Eigenkompositionen weiterentwickeln. Schon im ersten Titel dreht das 15köpfige Orchester richtig auf: Nachdem Shaft – oder wahlweise Karl Malden – zu einem schnellen Mambo um die Ecke gebogen ist, musizieren Mariachigeigen, Perkussion und Bläser schnell und wild um die Wette bis nach zwei Minuten ein cha cha cha das Tempo bremst und dem Sänger Raum gibt, um dann erneut zu dominieren. Pianist Sergio Mendoza stammt aus Tucson/ Arizona und spielt u.a. bei den Bands „Calexico“ und „Devotchka“. Vor drei Jahren gründete er seine Truppe, die zuerst nur als Spaßband gedacht war, jetzt aber zunehmend Erfolge feiert.

Instrumentale Mambos, langsam und schwülstig („Amada Amante“), Mambos in denen wilde Hammondorgelklänge in schneidende Bläsersätze eingebettet werden („Toma Tres“), auf alt getrimmte Mambos („Mambo in the Dark“), die durch eine gedämpfte Erzählstimme und Hundegebell einen surrealen Touch erhalten („Mambo Dukesa“) oder ein auf doppelte Geschwindigkeit gepitchter und mit E-Bass versehener Mambo, der dann wie ein Merengue klingt („Mario Tambien Come“).

Der Heimat Tucson ist „Traicionera“ geschuldet, das mit der lupenreinen Westerngitarre und den Trompeten zu Beginn einem Winnetou-Soundtrack von Herbert Boetcher gleicht, zwischenzeitlich in einer Klangcollage mündet, um dann noch mal als Westernexpress mit vielen fröhlichen Bläsern und Gesang Fahrt aufzunehmen.

Sergio Mendoza y La Orkesta
Mambo Mexicano!
Le Pop 34

Doch die Bigband mit Punkattitüde erlaubt sich auch Abstecher in andere Genres – TexMex, Jazz etc. – und spielt sogar Balladen. Das sentimentale „La Cucharita“ klingt wie die Folkgesänge der chilenischen Band „Quilapayun“ oder anderer 70er-Jahre-Bands, die die traditionellen Klänge ihrer Heimat mit – damals – modernen Orgelklängen vermischten und wieder populär machten. Wie es sich für ein gutes „Latino-Album“ gehört, endet diese großartige Platte auch mit einer Ballade: „Suenos Amargos“ kommt nicht schmalzig daher, sondern könnte auch von einer Nick-Cave-Platte stammen (auch wenn die Stimme etwas dünner klingt). Alles in allem fünf Sterne!

Die New Yorker Band „Chicha Libre“, bestehend aus einem Venezolaner, einem Mexikaner, zwei US-Amerikanern und zwei Franzosen wurde ebenfalls als Spaßband gegründet, belebt mit der chicha gleichfalls ein lateinamerikanisches Genre wieder und spielt fast alles Eigenkompositionen. Damit enden allerdings die Gemeinsamkeiten zu Sergio Mendozas Produktion, denn „Canibalismo“ beginnt schnell zu nerven.

Chicha Libre
Canibalismo
Crammed Discs

Bandgründer Olivier Conan, in Brooklyn lebender Franzose, entdeckte bei einer Reise nach Peru die chicha, das nach einem Maisgetränk benannte Genre, das in den 60er und 70er Jahren Peru aufmischte, mit seiner explosiven Mischung andiner Musikstile und kolumbianischer Cumbia und den Surfgitarren und Farfisaorgelklängen jener Zeit. Conan fand alte Single-Schätze und brachte zwei CD-Sampler mit der Musik heraus. Dann gründete er „Chicha Libre“, mit denen er die chicha erweitert und modernisiert, „kannibalisiert“ wie er es nennt: „Wir spielen keine reine chicha, wir sind von ihr inspiriert und von der brasilianischen tropicalismo-Bewegung, nehmen sie als Basis, bedienen uns aber auch bei vielen anderen Musikrichtungen, kannibalisieren also alles. Diese Idee und den Titel unseres Albums haben wir beim Brasilianischen Dichter Oswaldo de Andrade entlehnt, der in einem Manifest 1929 schrieb, dass Kulturen kontinuierlich andere Kulturen durch eine Verschmelzung kannibalisieren und so etwas Neues hervorbringen.“

Leider klingt das Ergebnis über weite Strecken nervig, so lobenswert und hier und da lustig umgesetzt die Grundidee ist. Nervöse Cumbias treffen auf cheesy klingende Keyboards und ein Mellotron sowie psychedelische Surfgitarren. In „La plata“ macht das noch Spaß, der bis „Muchachita del Oriente“ anhält, aber spätestens bei „Depresión tropical“ bekommt man eine ebensolche und wünscht sich ob des Gefiepses die Droge genommen zu haben, deren Erfinder in „Lupita en la selva y el doctor“ gehuldigt wird. Eines der besseren Stücke (mit weniger Mellotron) ist „L’age d’or“, in dem zu einem französischen Sprechgesang à la Serge Gainsbourg gespielt wird, während die Idee Wagners „Ritt der Walküren” in eine chicha zu verwandeln, wegen des analogen Retrosounds naiv nach MIDI-Musik oder Kinderinstrumenten klingt.

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