Im Wechselbad der Klimazonen

Im Wechselbad der Klimazonen „In Ecuador findet man sämtliche Klimazonen auf engstem Raum“ heißt es in dem Reiseführer, den ich vor meiner Abreise aus Deutschland gelesen habe. Nachdem ich in Quito gelandet war und nach zwei Wochen genug hatte vom Moloch der ecuadorianischen Hauptstadt, entschied ich mich, diese Behauptung auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.

Zunächst verschlug es mich ins bergige Hochland im Norden Ecuadors. Die Landschaft um Otavalo glich in vielerlei Hinsicht der rund um Quito: Zerklüftete Felslandschaften, steile grüne Hänge, hohe Vulkane und vom harschen Bergklima gezeichnete Hütten wohin das Auge reicht. Auf der Suche nach neuen landschaftlichen Eindrücken stieg ich schließlich in einen Bus und fuhr gen Westen. Eine dreistündige, holprige und kurvenreiche Fahrt, die ich stehend in einem zu niedrigen und überfüllten Bus verbringen musste, brachte mich in eine andere Klimazone.

Weitläufige, von dichter Vegetation bewachsene Bergkämme zerpflügten die Gegend, in den Tälern flossen zu stattlichen Flüssen angewachsene Gebirgsbäche. Was der Beschreibung nach ans Auenland erinnert, war in Wahrheit die abgelegene Intag-Region. Auf 1.400 Meter Höhe befand ich mich laut Reiseführer im subtropischen Nebelwald. Als ich mich vom Busfahrer vor einem verlassenen Hostal abseits jeglicher Siedlung absetzen ließ, überfiel mich vor allem das Gefühl am verschlafensten Ort der Welt zu sein.

Am nächsten Tag zog es mich zu den Thermalbädern von Nangulvi, die sich jedoch als mittelgroße Enttäuschung entpuppten. Ich hatte irgendwie mehr erwartet als ein paar schmutzige Schwimmbecken mit warmem Wasser. Zudem hatte ich auch noch Pech mit meinem Hostal: schmutziges Zimmer, bewohnt von Ameisen, mit bedenklich brummendem Flackerlicht und hauchdünnen Wänden. So verbrachte ich einen einsamen Tag und fühlte mich von den Einheimischen angestarrt und als Fremder nicht unbedingt willkommen. Aber das warme Klima war angenehm, auch wenn nachts ein harter Regenschauer auf das Dach meiner Unterkunft prasselte.

Ich blieb nur eine Nacht in der Nähe von Apuela, machte am Morgen vor meiner Weiterreise jedoch noch eine Wanderung aus dem Tal hinauf auf einen der Bergkämme. Ich suchte ein paar Ruinen aus präkolumbischer Zeit, die ich jedoch nicht fand. Stattdessen begegnete ich auf einem schmalen Feldweg am Hang des Berges zwei jungen Kälbern – dicht gefolgt von einem wütend drein blickenden Bullen mit riesigen Hörnern. Mein Herz schlug mir bis zum Hals als ich mich vorsichtig an der kleinen Rinderfamilie vorbei schob um meine Suche nach den Ruinen fortzusetzen.

Mein Irrweg hatte aber auch etwas Gutes. Ich erhaschte faszinierende Einblicke in das Leben zwischen Bananenplantagen, Wasserfällen und schnell vorüber ziehenden Nebelschwaden. Die Menschen in Intag scheinen ihrem Tagesgeschäft mit außerordentlicher Gemütlichkeit nachzugehen. Auch in anderer Hinsicht ist Intag eine Region mit Vorbildcharakter. Die Bewohner haben sich politisch organisiert, unter anderem um die sie umgebende Natur im Kampf gegen skrupellose Minenfirmen zu schützen. Hinzu kommt die einst von Entwicklungshelfern gestartete Intag-Zeitung, die über das Leben der indigenen Bevölkerung und kommunale Geschichten berichtet – ein Teil der Zeitung erscheint in der Indigenensprache Quechua.

Als ich zur Bushaltestelle schlenderte, hatte ich irgendwie das Gefühl, die Gegend an einem schlechten Tag erlebt zu haben.

Auf dem Weg zum Bus nach Otavalo erlebte ich dann jedoch einen elementaren Bestandteil der hiesigen Kultur: Niemand kann einem eine verlässliche Auskunft geben. Um den Bus zurück in die Zivilisation zu bekommen, musste ich mehrfach die Haltestelle wechseln, sprinten, schwitzen, und schließlich feststellen, dass der Bus genau da abfuhr, von wo aus ich gestartet war.

Nachdem man mir in Otavalo meine Regenjacke aus einem Internetcafé geklaut hatte und ich mir daraufhin in Quito eine neue kaufen musste, verbrachte ich eine Nacht in der Backpacker´s Inn („Che Guevara hängt im Treppenhaus“). Am nächsten Morgen brach ich dann Richtung Regenwald auf.
Am Abend kam ich im kleinen Dschungel-Dorf Misahualli an, das etwa eine Stunde östlich der Provinzhauptstadt Tena und fünf Busstunden südöstlich von Quito liegt. Die Straße dorthin ging ständig bergab, aus der Ebene zwischen den Vulkanen hinab ins Amazonas-Becken. An manchem Punkt konnte man geradezu spüren, dass dort, in Richtung Tal, keine Berge mehr kommen und dass keine Erhebung den Blick gen Atlantik auffangen würde – auch wenn man es wegen dichter Wolken leider nicht sehen konnte.

Misahualli zeigte sich mild. Auf dem Plaza de Armas vor meinem Hostal erinnerte eine Schar wild herumturnender Affen daran, dass man sich in den Tropen befand. Diese Affen machten jeden Gang über den von Brunnen und Palmen gezierten Dorfplatz zu einem kleinen Abenteuer – vollkommen hemmungslos sprangen sie Touristen und Einheimische an, nur um ihnen Taschen, Halsketten oder Feuerzeuge zu entreißen, die sie dann auf irgendein Dach schleppten um damit zu spielen.
Rund um den Dorfplatz wurde daher Hostal-Gästen eindringlich geraten, ihre Fenster zu jeder Tages- und Nachtzeit zu schließen.

Auf der Suche nach Abendessen fand ich schließlich meinen Weg ins Hostal Shaw, das der einzig belebte Flecken an diesem Abend zu sein schien. Ansonsten kam mir das Dorf eher verlassen vor und so hatte ich mich gedanklich schon auf ein schnelles Mahl und einen Abend unter der Leselampe eingerichtet. Doch kaum hatte ich das Restaurant betreten, fand ich mich von einer Gruppe kanadischer Volontäre umzingelt, die mich kurzerhand zu einer Feier in einem indigenen Dorf flussabwärts einluden. Hier hatten sie zwei Wochen lang sanitäre Anlagen und Dschungelpfade errichtet und wollten nun ihren Abschied feiern. So kam es, dass ich wenig später in einem Motor-Kanu über den Rio Misahualli schoss, mit tropischer Priese im Gesicht und Bier in der Hand, umgeben von gut gelaunten jungen Leuten und der nächtlichen Symphonie eines Amzonas-Zubringers.
Der Abend war dann auch so lustig, dass mich die Kanadier am nächsten Tag mit zum Rafting auf einen in der Nähe befindlichen Fluss schleppten.

Hier kämpften wir unseren Weg durch Stromschnellen, kenterten mehrere Male und machten intensive Bekanntschaft mit dem Nass des Tropenflusses, der belebte, durchströmte und begeisterte. Durch Stromschnellen geschwemmt zu werden, die einen ohne Schwimmweste sicherlich umgebracht hätten, war der ultimative Kontakt mit der Natur und bescherte mir ein einmaliges Freiheitsgefühl.
Die Kanadier reisten noch am selben Abend ab. Am nächsten Morgen erkundete ich eigenständig die Umgebung und bestritt den etwas mühsamen Weg (Fußmarsch, Bus, der sich mehr als verspätete, Kanu) zu der Tier-Station AmaZOOnico, in der aus dem illegalen Handel gerettete Tiere aufgefangen werden um sie anschließend wieder auszuwildern.

Bei dieser Gelegenheit sah ich Affen, Papageien mit absurden Farbkombinationen (blaue Schnäbel, gelbe Augen, rot-schwarze Federn), eine Anaconda und sich paarende Schildkröten. Gegen Abend machten mir dann aber die 40 Moskitostiche an meinen Beinen zu schaffen, die ich mir am Vortrag zugezogen hatte. Außerdem wurde das Dorf von einem Tropenschauer heimgesucht, der in den Nachtstunden unvorstellbare Regenmassen auf die Erde niederprasseln ließ. Dem war das Dach meines 7$-Zimmers leider nicht gewachsen. Kurz nachdem ich eingeschlafen war, wurde ich von Wassertropfen geweckt, die in reger Anzahl auf mein Bett fielen und meine Matratze durchweichten.

So lag ich in der Dunkelheit in einer Pfütze und lauschte dem Kreischen der Affen, das immer mal wieder vom Plaza de Armas zu mir hinüber drang, innerhalb weniger Sekunden aber vom nächsten Regenschwall übertönt wurde. Bevor ich in einen unruhigen Schlaf fiel, kreisten meine Gedanken. Ja, ich hatte innerhalb der letzten Woche drei Klimazonen gesehen: Hochland, Nebelwald, Tropen. Was aber in Erinnerung bleiben würde, waren die Erlebnisse dazwischen, die Höhen und Tiefen des Reisens, die Begegnungen. Und die Nostalgie, die man nach Wochen wie dieser schon kommen sieht, lange bevor sie eine Chance hat, im Rückblick real zu werden.