Im Land der Vulkane

„Wenn du Gott im Herzen trägst, wird dir nichts passieren!“. Die Mutter meiner Gastfamilie, bei der ich Unterschlupf gefunden habe, lächelt mir freundlich zu. Natürlich meint sie es gut mit mir. Trotzdem kann es einem gringo, der mit einem Fotoapparat durch die Altstadt von Quito läuft, für dessen Wert die meisten Einwohner zwei Monate arbeiten müssen, schon etwas mulmig werden – zumal mein Reiseführer anmerkt, dass es hier häufig zu Überfällen kommt, weswegen die Stadt mittlerweile sogar eine eigene Touristenpolizei eingerichtet hat. Breitschultrige Männer sorgen seither Maschinengewehr bei Fuß für Ordnung im historischen Zentrum. Doch bereits nach wenigen Schritten merke ich, dass meine misstrauischen Blicke, mit denen ich mich nach allen Seiten absichern will, hier unnötig sind.

Statt finsteren Messerstechern begegne ich einem bunten Haufen Menschen, die sich über die Vorführungen der Clowns auf der Plaza Santo Domingo amüsieren, spontane Straßenfeste abhalten und einem Fremden wie mir freundlich, wenn auch zurückhaltend, in die Augen blicken. Und das Land sollte weitere positive Überraschungen für mich bereit halten.

Da ich, um meine Freundin zu beeindrucken, mehrmals mit meinen Spanischkenntnissen geprotzt hatte, was einer realen Grundlage leider völlig entbehrte, dachte ich, es sei an der Zeit, meinen Kenntnisstand durch einen sechswöchigen Aufenthalt in Südamerika aufzufrischen. Dieser Subkontinent reizte mich schon seit langer Zeit. Ich dachte, eine Region, in der eine der schmutzigsten Großstädte der Welt „Gute Lüfte“ (Buenos Aires) heißt, und in der man die Frechheit besitzt, eine Stadt, in der Aufstände an der Tagesordnung sind, „Der Friede“ (La Paz) zu nennen, eine solche Region voller Widersprüche ist es wert, besucht zu werden.

Einen Monat später sitze ich im Flugzeug nach Quito, der Hauptstadt Ecuadors. Im Weltatlas ist dieses Land ein kleiner Zipfel im Nordwesten Südamerikas, den man neben seinen riesigen Nachbarn Kolumbien und Peru beinahe übersieht. Tatsächlich besitzt dieser kleine Fleck auf der Landkarte aber eine Vielseitigkeit, die ihresgleichen sucht.

Im Westen des Landes bringt der Pazifik feuchtheiße Luft mit sich, was riesige Bananenplantagen ermöglicht, während sich in der Mitte von Nord nach Süd das trockene Hochgebirge der Anden zieht. Im Osten besteht das Land ausschließlich aus dem Regenwald des Amazonas. Und schließlich gehört das knapp 1000 Kilometer westlich gelegene Naturparadies der Galápagos-Inseln ebenfalls zu Ecuador. Der Andenstaat befindet sich zudem auf dem cinturón de fuego de la tierra, dem „Feuergürtel der Erde“: Hier schiebt sich die schwere Nazca-Platte des Pazifischen Ozeans unter die leichtere Südamerika-Platte, was eine gesteigerte Vulkantätigkeit nach sich zieht. Außerdem leben hier 124 Kolibri-Arten, rosafarbene Flussdelfine und die conga, eine Ameise, deren Biss einen Erwachsenen für mehrere Tage in einen äußerst schmerzhaften Fieberwahn versetzt. Für mich war klar, dass ich dorthin musste.

Die Hauptstadt des Landes, Quito, befindet sich zwar in mitten der Tropen (tatsächlich leitet sich der Name Ecuador vom Äquator ab, der das Land nördlich der Hauptstadt durchschneidet), gleichzeitig aber auch etwa auf der Höhe der Zugspitze, knapp 3000 Meter über dem Meeresspiegel. In Quito kann man alle vier Jahreszeiten an einem Tag erleben: Das Wetter ändert sich abrupt; die Stimmung wechselt ohne jede Vorwarnung. El tiempo es como las mujeres, das Wetter ist wie die Frauen, sagt man(n) dazu in der Hauptstadt.

Als ich mich auf den Weg in das historische Zentrum mache, zeigt das Thermometer 28°C an. Die Sonne scheint sich vorgenommen zu haben, die Stadt in den Boden zu schmelzen, so intensiv brennt sie vom Himmel. Ich laufe linkerhand am Park Alameda vorbei. Liebespaare und solche, die es werden wollen, liegen hier an den Wochenenden lässig im Gras, versenken sich ineinander und vergessen die Welt um sich herum für ein paar Stunden.

Kreuz und quer streife ich durch das historische Zentrum, bekomme Schokoriegel, Batik-Hosen und selbstgebrannte CDs zum Kauf angeboten, stolpere mitten in ein Rockkonzert, das unvermittelt an irgendeiner Straßenecke beginnt, und betonte vorsorglich immer wieder, dass ich nicht aus den USA komme.

Dann möchte ich die Stadt von oben sehen. Knapp zwei Millionen Menschen zwängen sich in ein Tal, das ringsum von Bergen und Vulkanen umgeben ist. In den letzten Jahren ist die Bevölkerung stark angestiegen, und es sieht aus, als kröchen die Häuser der Stadt die Hänge der umliegenden Berge empor. Quito von innen ist eine bunte, aufregende Stadt, in der es an allen Ecken schallt und dröhnt, duftet und stinkt, eine Stadt voller Leben. Quito von oben aber ist gewaltig, wuchert unkontrolliert und ist längst zu groß geworden für das Tal.

Noch während ich auf dem Hügel stehe und die Stadt mit meinen Gedanken bedeckte, schieben sich pechschwarze Wolken über die Berge, als wolle sich ein riesiges Raubtier auf die Häuser stürzen.

Der Wechsel kommt so schnell, dass ich gerade noch Zeit habe, mir einen Pullover überzustreifen und in meine Regenjacke zu schlüpfen, dann prasselt es auch schon los. El tiempo es como las mujeres, das Thermometer zeigt 15 Grad. Eine halbe Stunde später leuchtet die Sonne wieder im Zenit, als sei der Wolkenbruch nur ein kleiner Scherz gewesen.

Und noch einmal werde ich, der ich zum ersten Mal in den Tropen bin, von den klimatischen Bedingungen überrascht – diesmal von der Nacht, denn eigentlich habe ich erwartet, dass das Tageslicht langsam und gemächlich in die Dunkelheit gleiten würde, wie ich es von zu Hause gewöhnt bin. Stattdessen fällt die Sonne gegen 18 Uhr förmlich vom Himmel, macht den Sternen und Lichtern von Quito Platz.

Mir kommt es vor, als sei der Sonne unvermittelt die Puste ausgegangen, als hätte sie sich tagsüber zu stark verausgabt und ihr ganzes Licht bereits vergeben. Noch Wochen später wundere ich mich über diesen unmittelbaren Wechsel von Tag und Nacht, der für die Tropen so typisch ist.

Info

Bei dem Text handelt es sich um eine gekürzte Version, entnommen der Reise-Anthologie „Zwischen den Orten“ von Thomas Bauer (Hrsg.), erschienen 2003 im Wiesenburg Verlag, Schweinfurt.