Es ist vollbracht: Der Karsamstag in Sevilla

Kupferfarben fließt das Licht der schon tief stehenden Abendsonne vom westlichen Ufer des Guadalquivir durch die engen Häuserschluchten und blendet Fahrer und Fußgänger. Viel zu schnell dröhnt ein Motorrad von der Plaza del Duque Richtung Ufer, will unbedingt noch durchkommen bevor die Straße gesperrt wird. Der bullige, rücksichtslose Fahrer trägt ein T-Shirt der Tottenham Hotspurs. Als er abbiegen will, lenkt ein kreischendes Geräusch, das wie eine Kreissäge in die Gehörgänge fährt, alle Blicke auf die Straßenecke, wo in diesem Moment der englische Fußballfan samt seinem Fahrzeug krachend auf dem Asphalt landet. Unfallursache war weniger die blendende Sonne, als vielmehr buntes Wachs.

In der Tat ist laut neuesten Statistiken während der Semana Santa und noch zwei Wochen danach das Wachs, das die 60 Prozessionen hinterlassen haben, die zweithäufigste Unfallursache in Sevilla.

Die Madonna der Einsamkeit der Servitas

Denn die poppig bunte Wachsschicht, die gegen Ende der Karwoche wie Zuckerguss die Straßen der andalusischen Hauptstadt überzieht, ist ein echtes Verkehrsproblem, bringt sämtliche Reifen ins Rutschen, besonders wenn das Wachs durch die heiße Sonne wieder aufgeweicht wurde. Jedes Jahr muss die Stadtverwaltung 25 Arbeitstage und mehr als hunderttausend Euro in die Wachsentfernung investieren.

Kurz vor 19.00 Uhr in der Calle Alfonso XII. Der gestürzte Tottenham Hotspurs Fan hat seinen Roller leicht humpelnd Richtung Ufer geschoben. Inzwischen ist die Straße abgesperrt, denn Karsamstag ist der letzte Prozessionstag. Da wird das Leitkreuz der Bruderschaft Santo Entierro an uns vorbei getragen, gefolgt von einer Doppelreihe von „Nazarenos“. Unheimlich wirken diese maskierten Büßer in ihren langen pechschwarzen Gewändern und den schwarzen, nach oben spitz zulaufenden, Gesichtsmasken, die nur Augenschlitze frei lassen. Und es wird noch gruseliger, denn schon nähert sich der erste Paso (Altarbühne) der Bruderschaft und darauf sitzt unter dem leeren Kreuz ein bizarres Skelett, das den Tod symbolisiert. Vom Kreuz herab hängt ein schwarzes Stoffband mit der Inschrift „Mors mortem superavit“: „Durch den Tod (Christi) wurde der Tod (des Menschen) überwunden.“

Aber das gruselige Gerippe, das in der in der linken Hand noch die Sense hält und mit der rechten den Schädel aufstützt, der zu grinsen scheint, will nicht wirklich zum theologischen Pathos der Inschrift passen, sondern karikiert sie fast. Diese eher missglückte Todesallegorie wurde Anfang des 19. Jahrhunderts nach barocken Vorbildern im Auftrag der Bruderschaft rekonstruiert. Gegründet wurde diese religiöse Laienvereinigung des Santo Entierro 1570 von Genueser Künstlern und Bankiers, die in der damaligen Globalisierungsmetropole Sevilla ihre neue Heimat gefunden hatten. Es ist eine eher aristokratisch-konservative Bruderschaft. Seit dem letzten Habsburger Karl II. waren alle spanischen Könige Ehrenmitglieder vom „Santo Entierro“ und überhaupt muss man leider sagen, dass die Führung dieser Hermandad oft zu eng mit der herrschenden politischen Macht verknüpft war. Ein Beispiel dafür ist Franco, der 1940 im Kreise der Bruderschaft an der Prozession teilnahm. Ein weiteres Detail, das uns diese Bruderschaft weniger sympathisch erscheinen lässt: ganz anders als in anderen Prozessionen gehen die Honoratioren hier unmaskiert im Frack statt als Nazarenos – dies verstößt gegen das Ideal anonymer Buße und gegen den Grundsatz der Gleichheit vor Gott.

Vielleicht sind wir auch einfach zu müde, um El Santo Entierro zu würdigen: über 50 Prozessionen in sechs Tagen und Nächten haben ein chronisches Schlafdefizit hinterlassen und eine melancholische Stimmung dominiert diesen letzten Tag der Semana Santa. Müde an eine Hauswand gelehnt, blicken wir der nächsten wandelnden Szene des Kreuzwegs entgegen. Die Abendsonne lässt den frisch vergoldeten Paso erstrahlen. Doch all dieses Goldgeblitze lenkt zu sehr ab vom eigentlichen Kunstwerk: dem Cristo Yacente (1620) von Juan de Mesa, dem einzigen Schüler des großen Martínez Montañés, der an dessen Genialität heran reichte.

Große Kunstwerke präsentiert die Prozession von Santo Entierro ohne Zweifel, aber irgendwie fehlt uns die typisch sevillanische Semana Santa Stimmung: kein Blütenregen, keine Saetas, und die Träger vollführen auch keine Kunststücke mit den tonnenschweren Pasos. Die ganze Demonstration ist uns zu theologisch und wir hoffen auf einen schöneren Ausklang der Heiligen Woche.

Kurz nach 22.00 auf der Plaza de Santa Isabel. Wir haben uns einen Platz zwischen dem Brunnen und dem Seitenportal der Klosterkirche Santa Isabel erobert. Eine dichte Menschenmenge drängt sich auf dem Platz, der seit ein paar Minuten in völliger Dunkelheit liegt. Alle Laternen wurden ausgeschaltet, nur der bleiche Schein des Vollmondes taucht die Silhouetten der Kirchen und die wartenden Menschen in ein unwirkliches Licht. Ein zur Ruhe mahnendes Zischen geht jetzt durch die Zuschauer, man hört leise Oboenklänge, dann öffnet sich eine Gasse und silbern glänzend wird das Leitkreuz der Prozession von Los Servitas herangetragen. Eigentlich schon 1696 gegründet, verwandelte sich diese Vereinigung erst 1971 in eine Bußbruderschaft und organisiert seitdem eine Prozession. Ganz in Schwarz schreiten die Nazarenos der Servitas vorbei.

Kurz hinter dem Leitkreuz folgt eine Standarte, die das pathetische Wappen dieser Bruderschaft zeigt: ein rotes Herz, durchstoßen von sieben goldenen Dolchen.

Die Nazarenos umrunden den ganzen Platz, bevor sie rechts im Eingang ihrer Kapelle verschwinden, die an die Kirche San Marcos angebaut wurde. Mit kaum mehr als 300 Nazarenos ist dies eine der kleinsten Prozessionen der Sevillaner Semana Santa. Schon hören wir den Trauermarsch, der den ersten Paso ankündigt. Plötzlich öffnet sich hinter uns ächzend das Portal der Klosterkirche Santa Isabel. Es ist das einzige Mal im Jahr, dass diese vergessene, vom Verfall bedrohte Kirche eines Klausurklosters ihre Pforten öffnet – ansonsten bleibt sie der Welt verschlossen.

Jetzt aber kann man für ein paar Momente das goldene Leuchten genießen, das sich durch das weit geöffnete Portal vom Kircheninnern auf den verdunkelten Platz ergießt. Die Renaissance-Kirche Santa Isabel gehört zu den vielen verborgenen Schätzen Sevillas, die oft sogar Sevillanern nicht bekannt sind. Wir können einen Blick in den Innenraum werfen. Da ist der goldstrahlende Hochaltar, entworfen von Juan de Mesa.

Zwischen weiteren vergoldeten Hochaltären ist es vor allem ein anderes Werk von Juan de Mesa, das die Blicke anzieht: der „Cristo de las Misericordias“ (1622). Fast jeder, der dieses Meisterwerk entdeckt, kommentiert spontan, dass diese Christusstatue eigentlich auf einem Paso durch die Straßen getragen werden sollte, statt der Öffentlichkeit vorenthalten zu werden.

In diesem Moment müssen alle die Kirche verlassen und den Eingang räumen, denn der erste Paso der Servitas ist angekommen. Die Träger bringen die Piedad direkt vor dem geöffneten Kirchenportal zum Stehen.

Einige der Zuschauer glauben, der Paso würde in die Kirche hinein getragen, aber er wird nur für ein Grußritual, wie man es immer wieder während der Semana Santa beobachten kann, vor dem Portal postiert.

Zwischen sehr schönen Eckfiguren und Laternen erhebt sich die mit Rosen geschmückte Skulpturengruppe der Piedad, geschaffen um 1730 vom Bildhauer Montes de Oca.

Eckfigur des ersten Paso der Servitas

Das vom Kreuz herab hängende weiße Tuch leuchtet im Mondlicht als wollte es die Trauernacht der Mutter, die ihren toten Sohn in den Armen hält, erhellen. Schon wird der Paso wieder angehoben und zu den Klängen des Trauermarschs „Einsamkeit gib mir die Hand“ wird er in einer Ehrenrunde um den Platz getragen, bevor er rechter Hand in der Kapelle verschwindet.

Etwa zehn Minuten später erscheint die Jungfrau der Einsamkeit zwischen den Orangenbäumen am Ende des Platzes und wie ein lichterglänzendes Schiff bahnt sich ihr Paso einen Weg durch das Meer der dunklen Menschenkörper.

Von allen unbekannteren Madonnen der Semana Santa ist diese vielleicht die schönste. Hinter der flackernden Kerzenpyramide blickt sie mit traurigen Augen in die wartenden Zuschauer.

Ihr Schöpfer ist einer der bedeutendsten andalusischen Künstler des 20. Jahrhunderts: Antonio Castillo Lastrucci. Als ihr Paso wieder empor gehoben wird, schließen sich die Pforten des geheimnisvollen Klosters Santa Isabel erneut für ein Jahr.

Kurz vor Mitternacht in der Gasse Cardenal Spínola. An uns ziehen 800 schwarzweiß gewandete Nazarenos mit herunter gebrannten Kerzen vorüber. Sie gehören zur ältesten Bruderschaft des Tages, der 1549 gegründeten Soledad de San Lorenzo. In diesem Jahr feiert sie den 450. Jahrestag ihrer „Verfassung“, d.h. ihr Buch der Regeln wurde 1557 formuliert und verabschiedet. Früher war diese Vereinigung eine der aristokratischsten Bruderschaften der Stadt, denn bis ins 19. Jahrhundert durften ihr nur Adlige beitreten. Und seit Jahrhunderten ist diese einsame Madonna der letzte Paso, der die Kathedrale verlässt. Sie gilt als die älteste Dolorosa, die in der Karwoche durch Sevillas Straßen getragen wird, geschaffen zwischen 1580 und 1590 von einem unbekannten Künstler.

Am Ende der Gasse erhellt ein diffuses, goldenes Leuchten die Düsternis der Totennacht. Wie von riesigen, unsichtbaren Händen geschoben, rückt der von kühn geschwungenen Kerzenkandelabern erleuchtete Paso langsam näher. Schweigend zieht diese Prozession als einzige des Tages ohne jede Musikbegleitung, um die Einsamkeit und Trauer der unter dem leeren Kreuz stehenden Mutter Jesu besonders zu betonen.

Kein heiliger Johannes, kein Engel begleitet die „Einsamkeit von San Lorenzo“ – diese Jungfrau muss die Intensität des Schmerzes und der Verzweiflung über die Ermordung ihres Sohnes allein ertragen.

Umgeben von einem Lichtermeer steht sie da im schwarzen Trauermantel und blickt mit tränenerfülltem Blick verloren in die Nacht. Hinter ihr pendelt am leeren Kreuz das weiße Leichentuch ihres Sohnes leise im Wind.

Eine Welle der Ergriffenheit erfasst die Zuschauer, dann wird die Madonna um die Ecke auf die Plaza de San Lorenzo getragen. Doch wir haben keine Zeit, sie bis zum Schluss zu begleiten, denn eine Prozession – die größte des Tages – fehlt uns noch. Wir wollen uns schon abwenden und weiter gehen, da erklingen unerwartet die ersten heiseren Töne einer Saeta von einem Balkon über dem Paso: „Soledad de San Lorenzo….broche de oro que cierra la Semana Santa…“ (Einsamkeit von San Lorenzo – Du bist die goldene Brosche, die die Karwoche versiegelt…). Ein dunkelhäutiger Mann mittleren Alters, wild gestikulierend, begleitet mit diesem leidenschaftlich vorgetragenen Klagelied die einsamste Madonna Sevillas zurück in ihre Kirche.

01:00 nachts am Ende der Calle Sol. Schmetternde Trompeten ertönen und auch hier defilieren schwarzweiße Nazarenos vor unseren Augen.

„Göttlicher Ratschluss“ der Servitas

Die beiden letzten Prozessionen symbolisieren in ihren Farben das Wechselspiel der Gefühle während der gesamten Semana Santa: schwarzes Schweigen und feierliche Trauer auf der einen Seite, leuchtendes Frühlingsfest auf der anderen. Für uns ist es die letzte Prozession dieses Jahres. Die Bruderschaft der Dreifaltigkeit (La Trinidad) wurde 1555 von Gärtnern gegründet und ist heute eng mit dem Salesianer-Orden verbunden.

Schon erscheint der erste Paso – zusammen mit der Todesallegorie vom Santo Entierro: der einzige allegorische Paso der Sevillaner Semana Santa. „Sagrado Decreto“ (heiliger Ratschluss) ist der Name der dargestellten Szene auf dieser Altarbühne, die auf den ersten Blick etwas unübersichtlich daherkommt.

Der allegorische Paso („Göttlicher Ratschluss“) der Servitas

Irgendwie wirkt die barocke Szenerie mit zehn Figuren unterschiedlicher Größe überladen und ihre pompöse Theatralik erinnert an die Sprache von Calderons Autos Sacramentales.

Neben den drei Skulpturen der Dreifaltigkeit erscheinen die vier Kirchenväter (Augustinus, Ambrosius, Gregor und Hieronymus), die allegorischen Gestalten des Glaubens, der Kirche und Synagoge, der Erzengel Michael mit dem von ihm besiegten Drachen und der Engel der göttlichen Liebe.

Es ist unmöglich, in den paar Minuten, während diese Szenerie langsam vorbeizieht, auf alle Details zu achten. Der Vollmond, vorübergehend von Wolken verdeckt, taucht die ganze Straße und die Schatten der mit flackernden Kerzen vorbei schreitenden Nazarenos in wunderbares Licht, das aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Da gleitet der überdimensionale Schatten des Kreuzes zitternd über eine weiße Fassade.

Der zweite Paso von La Trinidad zeigt den Moment der Kreuzabnahme des toten „Christus der fünf Wunden“ – eine expressive Skulptur von Álvarez Duarte, die erst 2002 vollendet wurde.

Paso del Descendimiento de la Trinidad

Genau vor uns wird diese Altarbühne angehalten. Auf dem Paso richten die Jungfrau Maria, Magdalena und der Heilige Johannes den Blick nach oben, wo Nikodemus den toten Körper Christi vom Kreuz herab lässt: die weit ausgebreiteten Arme des Erlösers vor dem Vollmond, über den Wolkenschatten jagen, das weiße Leichentuch flattert in den Windböen.

Stumm blickt das Publikum empor zum Schatten des Kreuzes, der sich nun wieder bewegt. Der Paso wird schwankend im Takt eines Trauermarschs weiter getragen. Einen Augenblick lang sieht man noch die beiden hohen Leitern, die hinten ans Kreuz gelehnt sind, Leitern, die zum Himmel führen.

Paso del Descendimiento de la Trinidad

Jetzt brandet Jubel am anderen Ende der Straße auf: begleitet von einer dichten Menschentraube bahnt sich der letzte Paso der Bruderschaft, die Jungfrau der Hoffnung unter einem Baldachin aus grünem Samt, mühsam seinen Weg. Der Rhythmus der Musik wird schneller und fröhlicher, die Träger unter dem Paso geben noch einmal alles, bringen die schöne Madonna von Juan de Astorga (1820) in ihrem Übermut fast zum Tanzen; und eine Welle der Begeisterung geht durch die Zuschauer.

Hiermit endet die Trauernacht des Karsamstags, die Osternacht ist angebrochen und diese Jungfrau, die den Namen der Hoffnung trägt, bringt die Botschaft von Wiedergeburt unter das jubelnde Volk. Das Glitzern ihres grüngoldenen Mantels erleuchtet die Nacht schon ein paar Stunden vor Sonnenaufgang. Das Grün der wieder erwachenden Natur verdrängt das Schwarz des Winters, Blütenblätter regnen vom Himmel, Leben und Freude kehren zurück. Es ist vollbracht.

Links:
http://www.santoentierro.org
http://www.hermandaddelasoledad.org