Der Karfreitag in Sevilla

15.00 nachmittags am Karfreitag in Sevilla: Die Madrugá, Nacht des sakralen Rausches, ist vorbei und die ganze Stadt taumelt in totaler Erschöpfung. Viele waren ohne Schlaf pausenlos unterwegs, um die sechs großen Prozessionen der heiligen Nacht zu sehen. Sie verstummten beim Anblick des finsteren „Jesus der großen Macht“ und jubelten erleichtert den weiblichen Hoffnungsträgerinnen, Esperanza Macarena und Esperanza de Triana, zu. Doch die religiösen Bruderschaften gönnen Sevilla nur eine kurze Pause. Erst vor einer Stunde schlossen sich die Pforten hinter den beiden populärsten Madonnen und in einer halben Stunde werden sich schon wieder die Portale von Sevillaner Kirchen öffnen, um neue Prozessionen zu entsenden. Noch ist Siesta und die Gassen liegen still in der Mittagssonne. Die Sevillaner nutzen diese Momente für ein kurzes Ausruhen.

Die sieben Bruderschaften des Karfreitagabends haben es schwer, nach dem Publikumsmagnet der Madrugá eine ähnlich große Zuschauerzahl zu mobilisieren. Dabei verdienen sie die gleiche Aufmerksamkeit, denn diese sieben Prozessionen sind besonders feierlich und stellen einzigartige barocke Kunstschätze auf der Freilichtbühne der Straßen Sevillas zur Schau. Sie bieten die letzten Höhepunkte dieser sakralen Oper, in der die Passion Christi nachgestellt wird.

Dunkelblaue Eleganz und eine barocke Bühne

17.00 in der Calle Gamazo: Das Leben erwacht erneut und immer mehr Menschen kommen aus den Häusern, stellen sich in Zuschauerreihen auf. In diese enge Gasse mitten in der Altstadt Sevillas nahe dem Postigo-Stadttor wird ein Kreuz aus Ebenholz und Silber hineingetragen.

Es ist das älteste Leitkreuz (1700), das eine Karwochenprozession in der andalusischen Hauptstadt anführt. Dahinter erscheint wie aus dem Nichts eine düstere Doppelreihe von vermummten Nazarenos und erobert die Straße. Sie tragen edle Gewänder aus dunkelblauem Samt und goldfarbener Gürtelschnur sowie Kapuzenmasken aus Samt.

Passend zur ernsten Atmosphäre des Tages wird die Sonne plötzlich von Wolken verdeckt. Feierlich schreiten die Nazarenos voran, schon hört man Trommelwirbel und dramatisch schmetternde Trompeten. Im nächsten Moment biegt der erste Paso (Holzbühne mit Passionszene) der Bruderschaft La Carretería im Rhythmus der Musik schwankend um die Ecke.

Info: Nazarenos
Den Namen „Nazarenos“ erhielten die frommen Laien, weil sie ursprünglich mit ihrem Aussehen Jesus von Nazareth imitieren wollten, denn bei den frühen mittelalterlichen Prozessionen trugen sie statt Kapuzen noch Dornenkronen und oft Langhaarperücken. Die barocke Ästethik mit bis ins Detail aufeinander abgestimmten Farben und Formen, wie sie die Karwoche Sevillas bis heute bestimmt, setzte sich erst Anfang des 17. Jahrhunderts durch.

Aufgeregt lehnen sich Zuschauer über die Balkone, um kein Detail des schwierigen Manövers zu verpassen. Die Costaleros, die hinter Samtvorhängen unsichtbaren Träger dieser tonnenschweren Altarbühne, leisten Schwerstarbeit. Denn um in die enge Gasse einbiegen zu können, muss der fast sechs Meter lange Paso mehrmals vor und zurück dirigiert werden, bis er die enge Kurve bewältigt hat. Der Paso selbst nimmt fast die ganze Breite der Gasse ein und kommt schnell näher. Der Capataz (Dirigent des Paso) gibt das Kommando zum Anhalten und die heilige Fracht wird abgesetzt. Ergriffen streckt die alte Frau über uns vom Balkon ihre Hand aus, um das Kreuz zu berühren, wischt sich dann eine Träne aus den Augen. Die Musik verstummt, die Zuschauer, die dicht gedrängt um den Paso stehen, betrachten schweigend das barocke Figurenensemble auf der filigran geschnitzten Plattform aus Edelholz. Zwischen den vier kunstvoll geschwungenen Ecklaternen aus silbernen Blätterranken erheben sich drei Kreuze, an denen Christus sowie der gute und der böse Dieb hängen; davor knien Maria, der heilige Johannes und Maria Magdalena; dahinter stehen Nikodemus und Joseph von Arimathia und halten die Leitern, um den toten Körper Christi vom Kreuz zu nehmen. Alle Skulpturen dieser barocken Passionsszene entstammen dem 17. Jahrhundert. Die Christusfigur ist ein Werk des großen Bildhauers Francisco de Ocampo, während alle anderen in den 1670er Jahren in der Werkstatt des Meisters Pedro Roldán entstanden und seiner Tochter La Roldana oder deren Ehemann zugeschrieben werden.

Die Bruderschaft La Carretería richtet eine der kleinsten Prozessionen Sevillas aus, aber einen so intakten Kunstschatz aus dem Hochbarock können nur wenige bieten. Gegründet wurde die Bruderschaft 1550 von der Zunft der Böttcher und gehörte im Goldenen Zeitalter Sevillas neben El Silencio und El Gran Poder zu den drei wichtigsten. Heute gilt sie als ein Bollwerk der Tradition und ist berühmt für die prunkvollen Details ihrer Prozession.

Die Zuschauer sind beeindruckt von der Pracht und dem Symbolgehalt. Die Szene auf dem Paso stellt die „drei Notwendigkeiten“ (tres necesidades) für die Bestattung Christi dar, die von seinen Jüngern bereitgestellt wurden: Die Leiter zur Kreuzabnahme, das Leichentuch und den Sarkophag. Daher ist diese Szene ein passender Auftakt für die ernsten Prozessionen des Karfreitags – ein Tag, an dem auch in Sevilla die volkstümliche Alegría von theatralischer Trauer verdrängt wird.

Ein sterbender Zigeuner wird unsterblich

18.00 auf der alten Triana-Brücke: Die Zuschauer stehen dicht an dicht, während die 1400 Nazarenos der größten Bruderschaft des Tages, „El Cachorro“, die Brücke überqueren. Ganz in strenges Schwarz gekleidet, Tunikas und Gesichtsmasken, lockert nur der weiße Umhang die Trauerkleidung ein wenig auf.

Und doch verbreiten die beiden Prozessionen aus dem Vorort Triana an diesem Tag noch am ehesten das typisch andalusisch-heitere Ambiente, das die Karwoche hier von den strengen Feiern in Kastilien unterscheidet. Viele Kinder tollen umher, direkt neben der Prozession werden bunte Luftballons verkauft, die Geräuschkulisse ist beträchtlich und die Nazarenos haben Mühe, sich ihren Weg zu bahnen.

Bis plötzlich leicht schräge Trompetenfanfaren den Paso des „Cristo de la Expiración“ ankündigen, der goldstrahlend am Ende der Brücke auftaucht. Ein böiger Wind lässt die Gewänder der Nazarener flattern. Der bizarre Schatten des Gekreuzigten vor dem diffusen Licht der von dunklen Wolken verdeckten Sonne nähert sich. Eingerahmt von vier hohen Kerzenkandelabern erhebt sich das Kreuz mit der populären Christusfigur, die alle in Sevilla „El Cachorro“ („junges Tier“, „Welpe“) nennen.

Wie kam es zu diesem skandalösen Namen für eine Darstellung Jesu?
Im Jahre 1682 durchlebte der Sevillaner Bildhauer Francisco Antonio Gijón eine Inspirationsflaute. Er lieferte Heiligenfiguren und Englein für die Klöster und Laienbruderschaften Sevillas am laufenden Band. Alles gute Werke, aber der ganz große Wurf wollte ihm nicht gelingen. Unzufrieden mit seiner Kunst und aus Angst vor der zahlreichen Konkurrenz war er auf der Suche nach Inspiration und besessen vom Verlangen, ein einzigartiges Kunstwerk zu schaffen, das etwas Göttliches ausstrahlen, die Betrachter zu Tränen rühren und ihn unsterblich machen sollte. Dieser Wunsch ergriff so sehr Besitz von ihm, dass er nicht mehr schlafen konnte, nichts mehr essen wollte und in fieberhafter Erregung durch die Stadt streifte, bis er zum Elendsviertel der Zigeuner in Triana kam. Dort wurde er Zeuge, wie ein junger Zigeuner nach einem Messerstich verblutete. Unerwartet überkam ihn die Inspiration: er zeichnete den Gesichtsausdruck des Totgeweihten, kurz bevor er sein Leben aushauchte. Die spontane Zeichnung des unfreiwilligen Modells diente ihm als Vorlage für die geniale Skulptur, die heute als Inbegriff Sevillaner Bildhauerei gilt. Angeblich war der Spitzname des sterbenden Zigeuners „Cachorro“ – so kam diese Christusfigur zu ihrem seltsamen Namen. Als der Gekreuzigte 1683 erstmals durch die Straßen getragen wurde, erregte er großes Aufsehen, da viele das Gesicht des toten Zigeuners wieder erkannten.

Die Illusion, dass der „Cachorro“ über der wogenden Menge schwebt, wird unterbrochen, als die Träger ihn auf der Brücke absetzen. Wie hypnotisiert blicken die Menschen nach oben. Es gibt tausende von Christusdarstellungen in Sevilla – aber der Cachorro ist einzigartig in der elementaren Wucht seines barocken Expressionismus.

Francisco Antonio Gijón hat es mit diesem Meisterwerk geschafft, den Moment des letzten Atemzugs, des letzten Aufbäumens im Todeskampf festzuhalten. Christus hält den Blick nach oben gerichtet, mit leeren Augen, die verloren den Himmel absuchen nach Antwort auf sein Leiden.

In den Augen scheint sich das Lebenslicht zu brechen, während der Mund weit geöffnet ist – gleich dem Augenblick als Jesus rief: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen!?“ In der Figur des Cachorro ist alles menschliche Leid vereint, aber in ihrem Aufbäumen ist sie gleichzeitig eine symbolische Rebellion gegen den Tod. Die Dynamik der Szene wird betont durch das – im imaginären Wind – flatternde Lendentuch.

Der Cachorro – verehrt von Gläubigen und bewundert von Ungläubigen – ist eine Skulptur wie ein Blitzschlag, ein loderndes Fanal für Leid und Stolz menschlichen Daseins. Und doch wäre dieses Wunderwerk für die Ewigkeit, das Kunsthistorikern als letzter Höhepunkt des Sevillaner Barocks gilt und seinen Schöpfer in der Tat unsterblich machte, 1973 beinahe zerstört worden. Damals brach in der Kirche ein Feuer aus, dem die Madonna der Bruderschaft zum Opfer fiel und während die Flammen schon den Arm des Cachorro umspielten, wurde er im letzten Moment aus den Flammen gerissen.

Straßenbahnunfall mit Madonna

19.00 am gleichen Schauplatz: Kaum hat der Cachorro mit großem Gefolge die Brücke verlassen, da mischen sich unter die Töne des sich entfernenden Trauermarschs schon die Trommelwirbel der nächsten Prozession, die der Wind in Klangfetzen heranträgt. Die Nazarener der 1566 gegründeten Bruderschaft „La O“ betreten die Brücke. Wir haben viele der umstehenden Zuschauer gefragt, aber niemand war in der Lage, uns den merkwürdigen Namen dieser Vereinigung zu erklären.

Der Himmel reißt auf und die Strahlen der sinkenden Sonne entfachen ein prächtiges Farbenspiel: das leuchtende Purpur der Nazareno-Gewänder, das Silber der Kerzenleuchter, das Gold des Paso, der jetzt an uns vorbeigetragen und dann zum Stehen gebracht wird. Auf einem Hügel von violetten Lilien, zwischen kunstvoll gestalteten Laternen steht einsam der kreuztragende Christus, ein Spätwerk von Pedro Roldán (1685). Das spektakuläre Kreuz besteht aus glänzendem Perlmutt und Silber.

Das spektakuläre Kreuz besteht aus glänzendem Perlmutt und Silber.

Die Zuschauer neben uns weisen darauf hin, dass dieser Jesus besonders traurig aussieht und übertreffen einander in ihren Mitleidsbekundungen. Tatsächlich spricht diese Statue im violetten Mantel das Publikum direkt an.

 

In tief gebückter Haltung, mit verkrampften Händen das Kreuz umklammernd und den melancholischen Blick zu Boden gesenkt, wirkt er eher demütig und niedergeschlagen als stolz, versunken in Einsamkeit, von seinen Jüngern und allen Engeln verlassen. Deutlich zeichnet sich hier ab, dass die Sevillaner ihren Madonnen und Christusskulpturen allzu menschliche Charaktereigenschaften zuordnen. Ist der Cachorro stolze Rebellion gegen den Tod im letzten Moment des Lebens, so ist der Kreuztragende von La O stille, erschöpfte Ergebenheit in ein unausweichliches Schicksal. Statt zu beschützen, scheint er Schutz zu brauchen. Als die Träger jetzt den Paso mit einem heftigen Ruck nach oben hieven, wankt die Statue bedenklich, setzt aber unbeirrt den Passionsweg über die Brücke fort nach Golgotha, das heute im Herzen Sevillas liegt.

Nachdem einige hundert Nazarenos in Purpur vorbei defiliert sind, schlägt die Stimmung um. In einem Triumphzug nähert sich die Madonna „La O“ unter einem bordeauxroten Baldachin. Neben der kleinen Kapelle am Ende der Brücke hält der Paso der schönen, 1937 von Castillo Lastrucci geschaffenen, Jungfrau. Ihre Vorgängerin, ein Werk La Roldanas, verbrannte am Vorabend des Spanischen Bürgerkriegs als Anarchisten ihre Kirche stürmten.

Auch die Madonna Lastruccis, die jetzt huldvoll auf die unübersehbare Menge blickt, hatte einen Schreckensmoment zu überstehen. Denn 1943 widerfuhr ihr eine Begegnung der besonderen Art: ihr Paso wurde von einer Straßenbahn gerammt, der die Bremsen versagten.

Durch die Erschütterung erlitten einige der Träger Prellungen, Blumenvasen und Kerzen stürzten um, aber die Plattform ging nicht in Flammen auf und die Jungfrau kam mit dem Schrecken davon.

Die schon rötliche Sonne bringt den goldbestickten Mantel der Madonna zum Leuchten, als sie die Brücke verlässt und eine riesige Menschentraube hinter sich herzieht. Wir lassen uns treiben in diesem Menschenstrom, der auf die Magdalena-Kirche zufließt. Dann gönnen wir uns eine Pause für ein kurzes Abendessen, denn schließlich hat die päpstliche Bulle von 1627, in der die Stadt Sevilla vom Karfreitagsgebot des Fastens ausgenommen wird, immer noch Gültigkeit.

Einsamkeit – gib mir die Hand

22.00 in der engen Gasse Castelar: Wir warten auf die Prozession der 1656 gegründeten Franziskaner-Bruderschaft „Soledad de San Buenaventura“. Das Ambiente an diesem Prozessionsweg ist das einer eingeschworenen Trauergemeinde: Herren in schwarzen Anzügen und elegante Damen mit Mantillas, den schwarzen Spitzenschleiern, die als offizielle Trauerkleidung am Karfreitag getragen werden, dominieren die Szenerie. Aus der Dunkelheit erscheinen Nazarenos mit gespenstisch weißen Gewändern und schwarzen Kapuzenmasken, die das pompöse Leitkreuz aus Sandelholz umringt von kleinen Laternen tragen. Es sind die einzigen Lichter in der dunklen Gasse. Mit großer Disziplin, die Kerzen überkreuz haltend, schreitet die Doppelreihe der Nazarener an uns vorbei, bis nach zwanzig Minuten ein Trauermarsch erklingt. Leise zuächst, dann immer durchdringender erschallen die Trompeten, während ein riesiger flackernder Schatten auf die Wand des Eckhauses geworfen wird, bevor der Paso in die Gasse einbiegt. Er gehört zu den originellsten Altarbühnen der andalusischen Hauptstadt, ein Wunderwerk im Neorenaissancestil, das Mitte des 20. Jahrhunderts geschaffen wurde – aus Ebenholz mit Reliefs aus reinem Silber, die Passionsszenen darstellend. Vor dem leeren Kreuz, inmitten blutroter Rosen und Nelken, wartet die Jungfrau der Einsamkeit mit ausgebreiteten Armen. Diese Madonna, ein Werk von Gabriel Astorga (1851), ist im Gegensatz zu vielen junghübschen Marien, die eher wie Töchter Christi aussehen, eine echte Schmerzensmutter: nicht schön, aber realistisch.

Während die Träger verschnaufen, hält der Capataz eine motivierende Predigt und kündigt an, dass zum Gedenken an seinen verstorbenen Vater, der vor ihm das Amt des „Paso-Lenkers“ ausübte, die langgezogene Straße Castelar bis zum Molviedro-Platz ohne Pause (d.h. ohne Absetzen des Paso) bewältigt werden soll. Ein anerkennendes Raunen geht durch die Menge, denn Eingeweihte wissen, welch enorme Anstrengung dies bedeutet. Die Träger verschwinden unter dem Paso und bringen sich in Position. Beim dritten Hammerschlag hebt sich die Altarplattform und die Kapelle spielt die ersten Töne eines bekannten Trauermarsches. Mit dramatischem Pathos setzt sich der andalusische Zug in Bewegung, im Takt der Musik schleppen die Träger den zweieinhalb Tonnen schweren Paso die mindestens 500 Meter lange Strecke entlang. Die Ehre gebietet, bis zum Schluss durchzuhalten. „Soleá – dame la mano“ (Einsamkeit – gib mir die Hand) heisst der pathetische Trauermarsch, der das Publikum erstarren lässt. Da steigen manchem Zuschauer Tränen in die Augen. Denn die Semana Santa ist in solchen Momenten eine Oper großer Gefühle und zielt oft ohne Vorwarnung auf den wundesten Punkt. Mehr als einer ist im Publikum, der seit der letzten Karwoche seinen Lebenspartner verloren hat. Da trifft ein Trauermarsch mit diesem Titel mitten ins Herz. Nie spürt man deutlicher die Vergänglichkeit menschlichen Seins und Handelns. Und doch ist diese Prozession auch eine Demonstration gegen diese Vergänglichkeit, eine Beschwörung der Ewigkeit.

Die Costaleros haben ihre Last noch immer nicht abgesetzt, der Marsch wird zum zweiten Mal gespielt, Beifall brandet die Straße entlang, spontane Begeisterung über den unglaublichen Kraftakt der Träger. Sie legen eine Strecke zurück, die zwanzigmal länger ist als normal. Endlich ist der Platz erreicht und die völlig erschöpften Costaleros der Jungfrau der Einsamkeit werden ausgewechselt.

Ein Pfeil durch schwarzes Schweigen

23.00: Durch die Gasse Francos nahe der Kathedrale schreiten als schwarze und schweigende Schatten die Nazarenos der Bruderschaft „San Isidoro“ in der asketischsten Prozession des Tages, die ganz auf Musik verzichtet. Kurioserweise wurde diese Bruderschaft 1605 von Kutschern gegründet, die sich eigentlich nicht durch Askese und Schweigen auszeichnen. Es ist eine der wenigen Bruderschaften Sevillas, die immer in der gleichen Kirche residierten; der Kirche deren Namen sie tragen.

Auf üppig vergoldetem Paso wird der „Christus der drei Stürze“ herangetragen und – wir haben Glück – genau vor uns abgesetzt.

Der Bildhauer Alonso Martínez schuf diese Statue 1668. Die zweite Skulptur auf der Bühne, der Simon von Cyrene (1687), ist ein Werk des Autors des Cachorro. Francisco Antonio Gijón blieb seinem Realismus treu und hat ihn mit derben Gesichtszügen und klobigen Händen dargestellt. Ein Mann aus dem Volk, ein jüdischer Bauer, der zufällig ausgewählt wurde, um die Last des Kreuzes mitzutragen.

In diesem Augenblick tritt uns gegenüber eine ganz in Schwarz und mit Mantilla bekleidete Frau heraus auf ihren Balkon. Sie ist um die 50, hat edle Gesichtszüge, in ihrer Jugend muss sie von atemberaubender Schönheit gewesen sein. Sie stimmt mit langgezogenem „Ay“ eine Saeta an, ein Flamenco-Gebet, das dem unterm Kreuz gestürzten Jesus das Mitgefühl des Volkes versichert. Man versteht wenig vom Text, der Gesang klingt arabisch. Und wie die Sängerin dasteht – wild gestikulierend, mit wehendem Trauerschleier, am ganzen Körper zitternd, als ob sie die Töne aus unvorstellbaren Tiefen hervorbringen müsste, wirkt sie wie eine orientalische Klagegöttin. Saeta bedeutet Pfeil und genauso bohrt sich dieses Lied in die Seele der Zuhörer. Die Sängerin nimmt ihre Stimme zurück, bevor sie zum Schluss die Arme ausbreitet, als wollte sie Christus umarmen, und beendet ihre Vorstellung mit einem vibrierenden Schrei, der dem Publikum eine Gänsehaut über den Rücken jagt. „Das Volk hilft Dir, Dein Kreuz zu tragen“, sind ihre letzten Worte an den Christus von San Isidoro bevor dieser weiter zieht.

Aristokratische Tradition mit Burg und Löwe

Eine halbe Stunde nach Mitternacht auf der Plaza de Molviedro: Der Platz liegt im bleichen Licht des Vollmonds und vorbei an einer dicht gedrängten Menge defilieren Nazarener in leuchtend weißen Tunikas mit blauen Kapuzen. Sie gehören zur Bruderschaft von Montserrat, die – wie ihr Name verrät – von einer Gruppe Katalanen vor über vier Jahrhunderten gegründet wurde. Im 19. Jahrhundert wäre sie beinahe „erloschen“, bevor sie zwischen 1849 und 1851 unter Herzögen von Montpensier eine Renaissance erlebte. Danach trug Montserrat viel dazu bei, dass die Semana Santa in der Bevölkerung Sevillas nach einer Epoche der Dekadenz und Gleichgültigkeit zu neuer Popularität erblühte. Die Bruderschaft setzte durch die Einführung symbolischer Details und allegorischer Figuren neue Maßstäbe für die Prozessionen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts galt sie als „bourgoise“ Bruderschaft der Reichen und Adligen. Dieses Image hat sie noch heute, denn nach alter Tradition sind Angehörige des spanischen Königshauses Mitglieder von Montserrat und König Juan Carlos ist ehrenhalber ihr Großmeister.

Doch auch diejenigen, die Montserrat als zu elitär und konservativ kritisieren, geben zu, dass diese Prozession besonders sehenswert ist. Nicht nur wegen der kunstvollen Pasos, sondern auch wegen der allegorischen Darstellungen. Die Blicke des Publikums richten sich jetzt auf „La Verónica“: flankiert von zwei Nazarenos schreitet in der Mitte der Gasse eine junge, unmaskierte Frau. Ihr Gesicht im Kerzenlicht ist schön wie das einer Inmaculada von Murillo. Sie repräsentiert die heilige Veronika, die Jesus das Schweißtuch reicht, das repräsentiert wird durch ein Leinwandtuch mit religiösem Gemälde. Kurz nach dieser Erscheinung kündigt ein Trompetensolo den ersten Paso an.

Er wird erstaunlich schnell um die Ecke getragen. Wir werden gegen die Wand gedrückt und vom Fuß eines Costalero getreten – so dicht neben uns wird die riesige Altarbühne abgestellt. Direkt vor unseren Augen, nur Zentimeter entfernt, zwei tanzende goldene Engelchen, die aus dem Schnitzwerk des Paso den Blick nach oben richten.

Wir folgen ihrem Blick und sehen zuerst die knieende Figur der Magdalena, dann die drei Kreuze – ähnlich angeordnet wie bei La Carretería. In der Mitte befindet sich die außergewöhnlich große Christusskulptur von Juan de Mesa (1620). Mit großen Augen und halb geöffnetem Mund blickt dieser sehr lebendig wirkende Jesus zum guten Dieb und scheint ihm genau in diesem Moment das Paradies zu versprechen.

Das dritte Klopfen – Zeichen zum Aufbruch – reisst uns aus minutenlanger Meditation. Schwankend setzt die Passionsszene ihren Weg fort. Kurz danach erscheint, eskortiert von Nazarenos, die zweite allegorische Figur: „La Fe“, die Personifikation des Glaubens. Eine junge Frau ganz in Weiß und mit verbundenen Augen. Sie illustriert die Worte Christi: „Selig, die nicht sehen und doch glauben“. Dabei scheint gerade die Sevillaner Semana Santa mit all ihrer farbenfrohen, mediterranen Sinnlichkeit, das Gegenteil zu demonstrieren. Es ist ein berauschendes Spektakel fürs Auge und ein Jeder bewundert die ergreifende Kunst des andalusischen Barocks.

 

Jetzt starren alle Augen auf den Paso der Jungfrau von Montserrat, der seinen Einzug auf dem Platz hält. Von weitem sieht er aus wie eine überdimensionale Krone, denn kunstvolle Zacken aus Silber bekrönen den königsblauen Baldachin.

Die Symbole der Monarchie Kastiliens – Löwe und Burg in Gold auf blauem Grund – verzieren Mantel und Baldachin, im Zentrum das Wappen der Bruderschaft. Viele Kerzen sind vom Wind gelöscht worden, nun aber werden sie erneut entzündet, damit der Schmerzensmutter in dieser dunkelsten Nacht der Christenheit eine möglichst große Anzahl Lichter den Heimweg leuchten.

Der Glöckner von La Mortaja

2.00 nachts in der Gasse Doña María Coronel: Todmüde lehnen wir an einem Fenstergitter und warten zusammen mit vielen, die auch schon 24 Stunden oder länger auf den Beinen sind, leicht benebelt vom Weihrauchrausch dieser Semana Santa auf den letzten und wichtigsten Paso des Tages. Die schmale Allee liegt in völliger Finsternis, der Vollmond von Wolken bedeckt und die Laternen an den Barockhäusern sind ausgeschaltet, um die nahende Prozession besser zur Geltung zu bringen. Manche im Publikum scheinen im Stehen zu schlafen, nur der bezaubernde Duft der Orangenblüten und die Kühle der Nacht erfrischen die „Madonnen-Süchtigen“.

Da endlich – ein Raunen geht durch die Reihen, um gleich wieder zu verstummen. Denn am Ende der dunklen Gasse tauchen die ersten Lichtpunkte auf und bewegen sich rasch auf uns zu: die heruntergebrannten Kerzen der violett gewandeten Nazarenos von „La Mortaja“. Die Prozession dieser 1592 gegründeten Bruderschaft, die den Karfreitag beschließt, ist die kleinste in Sevilla, mit nur 250 Teilnehmern. Ähnlich wie bei Montserrat ist die Prozession der Bruderschaft vom Leichentuch Christi geprägt, von Traditionsbewusstsein und aristokratischem Pathos. An der Spitze schreitet im Licht silberner Laternen eine Figur aus alten Zeiten: ein Glöckner ohne Maske, der mit Geläut zur Aufmerksamkeit mahnt. Das ist kaum nötig, denn viele haben schon den Lichtschimmer zwischen den Orangenbäumen entdeckt. Oboenklänge schweben durch die Nacht, der Vollmond kommt hervor und taucht die Doppelreihe schwarzvioletter Schatten in kaltes Licht.

Dann werden 18 Altarleuchter dem einzigen Paso von La Mortaja vorangetragen (bei allen anderen Prozessionen sind es nur sechs). Als die Musik verstummt, ist das Schweigen im Publikum vollkommen. Wie ein goldenes Schiff gleitet der Paso lautlos die Gasse hinauf. Der Blick fällt zuerst auf die hohen Leuchter und die Engelsflügel, dann auf die beeindruckende Szene der Pietá. Maria hält ihren toten Sohn im Schoß, vor ihr knien der heilige Johannes und Maria Magdalena, hinter ihr, ebenfalls Trost spendend, Nikodemus und Joseph von Arimathea. Dies ist einer der wenigen Monumental-Pasos in Sevilla, dessen komplettes Figurenensemble original und bis aufs kleinste Detail unverändert aus dem goldenen 17. Jahrhundert bewahrt wurde. Der Christus ist von Cristóbal Pérez (1667), alle anderen Statuen sind Werke von Pedro Roldán.

Da jede der Skulpturen für die Anordnung dieser Passionsszene konzipiert wurde, ist sie von einmaliger Harmonie. Doch nicht nur das Gesamtkunstwerk dieser Piedad, die den Hauptaltar der nahen Kirche St. Maria vom Frieden bildet, auch alle anderen Details dieser nächtlichen Szene laden ein zu einer Zeitreise. Der Zuschauer wird mehr als drei Jahrhunderte zurückversetzt. Abgesehen von der Kleidung des Publikums und ein paar parkenden Autos könnte dieser Anblick auch um 1680 ausgesehen haben. Denn die meisten Häuser in der Gasse stammen aus dieser Zeit und die Glühbirnen in den Laternen sind durchWachskerzen ersetzt.

Nur kurz haben die 48 Träger ihre Last abgesetzt, schnell geht es weiter, denn die Wolken am Nachthimmel kündigen Regen an. Daher hat man es eilig, die kostbare Fracht in die Kirche zu bringen. So zieht die Szene vorbei, gerade und gleichmäßig getragen, nur der filigrane Strahlenkranz der Madonna zittert bei jedem Schritt, reflektiert das Kerzenlicht wie eine Nachtsonne.Unter diesem Glanz das tränenüberströmte Gesicht der schönen Maria, getröstet von den umstehenden Figuren und doch allein mit ihrem toten Sohn und dem größten Schmerz, der einer Mutter zugefügt werden kann. Unheimlich ragt die starre, nach oben gespreizte Hand des toten Jesus ins Leere. Das weiße, vom Kreuz herabhängende Leichentuch flattert im Nachtwind. Wir folgen dem Paso in gebührendem Abstand, es sind nur noch wenige Meter bis zur Kirche. Die Torflügel öffnen sich und die Altarbühne wird gesenkt. Die Träger müssen sie auf Knien durch das niedrige Portal wuchten. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, schiebt sich der Paso ins Portal. Das letzte, was man sieht, bevor das Tor sich schließt, sind zwei Engelsflügel, die im Dunkeln leuchten, dann besiegelt der letzte Ton des Glöckners von La Mortaja das andalusische Requiem.

Interessante Links:

http://www.soledadsanbuenaventura.org

http://www.el-cachorro.org

http://www.hermandad-de-la-o.org

http://www.hermandaddelacarreteria.org

http://www.lapasion.org