Das Hospital de la Caridad in Sevilla

„Hier ruhen die Knochen und die Asche des unwürdigsten Menschen, der je in dieser Welt gelebt hat. Betet zu Gott für ihn.“ Diese fromme Aufforderung steht nicht auf dem Grab des großen Sünders Don Juan, sondern auf einer unscheinbaren Grabplatte am Eingang der Sevillaner Kirche des Hospital de la Caridad. Darunter liegen die sterblichen Überreste eines Heiligen, der diese demütigen Zeilen selbst zu seiner Grabinschrift bestimmt hat.

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Fassade des Hospital de la Caridad vom Flussufer aus gesehen

In Sevillas Goldenem Zeitalter war er einer der reichsten und mächtigsten Männer der Stadt. Die Rede ist von Don Miguel de Mañara Vicentelo de Leca (1627 – 1679). Nach dem Tod seines Vaters erbt er ein enormes Vermögen, das jener im frühen 17. Jahrhundert durch Geschäfte im „Indienhandel“ angehäuft hatte.

Mañara übernimmt 1648 die Geschäftsführung des Wirtschaftsimperiums und im selben Jahr heiratet er Doña Jerónima Carillo de Mendoza. Kurze Zeit später gewährt man ihm die Aufnahme in den noblen Calatrava-Ritterorden, in dem nur Angehörige des Hochadels zugelassen wurden. Nun schien das Glück dieses spanischen Edelmannes vollkommen. Aber 1661 stirbt seine geliebte Frau nach kinderloser Ehe. Miguel de Mañara fällt im Alter von 34 Jahre in tiefe Depressionen. Danach widmet er sein Leben nur noch Gott und dem Nächsten. Er wird zum Asketen, tritt der „Hermandad de la Caridad“ (Bruderschaft der Nächstenliebe) bei, die sich der Bestattung von Ertrunkenen, Hingerichteten und Opfern der Pest und bis heute der kostenlosen Pflege von mittellosen Alten und Kranken widmet. Im Dezember 1663 wird Mañara zum Großmeister dieser Bruderschaft gewählt und steckt fortan seine ganze Energie in das Projekt: ein großes Hospital für Alte, Kranke und Obdachlose. Gleichzeitig sammelt er wie besessen Geld für den schon begonnen Neubau einer Kirche. Seinen Hauptpalast in der Judería hat er schon vor Jahren gegen eine karge Zelle in seinem Hospital eingetauscht und führt inmitten des quirligen Hafenviertels ein Eremitendasein.

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Barockarchitekt Leonardo de Figueroa entwarf die Fassade

Im Jahre 1674 erfolgt die feierliche Einweihung von Hospital und dazugehöriger Kirche. Mañara hatte ein Dutzend Paläste und Latifundien verkauft und sein gewaltiges Vermögen von 800.000 Golddukaten in dieses – ebenso im karitativen wie künstlerischen Sinne – Mammutprojekt gesteckt. Dementsprechend prunkvoll ist die Kirche, die sein Vermächtnis wurde. Am 9. Mai 1679 stirbt er an einem Fieber und Tausende erweisen dem „Padre de los Pobres“ (Vater der Armen) die letzte Ehre. Noch heute sagen viele Sevillaner, dass Mañara der heiligste Sohn ihrer Stadt war. Und tatsächlich hat er seiner Stadt ein wahrhaftiges Monument der Nächstenliebe geschenkt – und ein Wunderwerk barocker Kunst.

Die Kirche und das Hospital de la Caridad liegen genau zwischen den beiden emblematischen Gebäuden Sevillas: dem arabischen Goldturm und der Giralda, dem ehemaligen Minarett. Heute ist „La Caridad“ die Hauptsehenswürdigkeit des Arenal-Viertels. Vom Flussufer kommend, sieht man schon von weitem die strahlend weiße, mit Azulejo-Bildern verzierte Fassade der Barockkirche, die aus zwei Gründen außergewöhnlich ist. Zum einen wird hier die Sevillaner Mode von Kachelbildern mit sakralen Motiven auf die gesamte Vorderfront ausgedehnt, und zwar wie zu einem Hochaltar angeordnet. Zum anderen sind diese Azulejos eigentlich untypisch für Sevilla, denn sie sind nicht bunt, sondern ganz in Blautönen gehalten. Es ist „Delfter Blau“!
Azulejo-Bilder in Delfter Blau
In Sevillas Goldenem Zeitalter waren die Niederlande spanisch und viele flämische Meister am Boom der Schönen Künste in der andalusischen Metropole beteiligt. Die Holländer brachten ihr Delfter Blau in die andalusische Keramik ein.

Die Kachelbilder auf der Fassade und im Patio des Hospital de la Caridad gehören zu den seltenen noch erhaltenen Originalexemplaren aus dem 17. Jahrhundert.
Dabei sind die Motive ganz und gar sevillanisch, denn entworfen wurden sie vom großen Barockmaler Bartolomé Esteban Murillo (1617 – 1682). Den heiligen Georg, dem die Kirche geweiht ist, stellt er als Drachentöter dar. Dominierend aber wirken die allegorischen Darstellungen der drei christlichen Kardinaltugenden Glaube, Hoffnung und Liebe. Natürlich ist es kein Zufall, sondern Mañaras Wunsch, dass im Zentrum dieses Bildprogramms – eingerahmt von den Figuren des Glaubens (links) und der Hoffnung (rechts) – die (Nächsten)Liebe steht: Caridad.

Der Eingang führt zunächst in den Patio. Dabei sollte man den bescheidenen Eintrittspreis gern bezahlen, denn er kommt als Almosen zum Unterhalt dieses Armenwohnheims einem karitativen Zweck zugute. Man gelangt in den klassisch schönen Innenhof, bei dem es sich um einen „Doppel-Patio“ handelt, der durch einen Arkadengang in zwei gleich große Hälften geteilt wird. Das Hospitalgebäude ist in den typischen Sevillaner Barockfarben Dunkelrot und Gelb gehalten.

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Patio des Renaissance-Palasts von Mañara

Vom Patio aus betritt man die Kirche – und möchte fast erschreckt zurückweichen.

Denn das erste, was man zu sehen bekommt, sind die beiden schaurigen Vanitas-Allegorien des genialen Barockmalers Juan de Valdés Leal (1622 – 1690):

Finis Gloriae Mundi und In Ictu Oculi. Im Vordergrund des ersten Bildes liegen die halb verwesten Leichen eines Erzbischofs und eines Calatrava-Ritters – eine Mahnung der Vergänglichkeit aller irdischen Macht. Es ist ein Kommentar seines Rivalen Murillo überliefert, der angesichts dieser apokalyptischen Vision der Verwesung ausrief: “Hay que taparse la nariz!“ („Da muß man sich ja die Nase zuhalten!“). Es lässt sich nicht mehr klären, ob Murillo damit Kritik über die „modrige Stimmung“ des Gemäldes von Valdés Leal oder Anerkennung seines drastischen Realismus ausdrücken wollte. Kaum weniger heftig präsentiert sich, genau auf der gegenüberliegenden Wand der Kirche „In Ictu Oculi“ (“In einem Wimpernschlag“). Hier kommt der plötzliche Tod in Gestalt eines grausam grinsenden Gerippes mit Sarg und Sense unterm Arm hereinspaziert, den rechten Fuß auf der Erdkugel und mit der linken Hand das Lebenslicht – eine Wachskerze – erstickend.

Doch sogleich wird man durch die besänftigenden Visionen Murillos, die den Betrachter unmittelbar danach in ihren Bann ziehen, in eine andere Stimmung versetzt. Im schönsten Gemälde der Kirche erscheint uns eine Lichtgestalt: die heilige Elisabeth bringt als gottgesandte Heilerin Hoffnung in diese finstere, angsterfüllte Welt. Durch die Kontraste tritt die Schönheit der Elisabeth noch stärker hervor. Das eigentliche Thema dieses Bildes ist aber die Schönheit der heiligen Handlung. Mit dieser Botschaft Caridad = Belleza illustriert Murillo perfekt die Grundidee dieser „Kirche der Nächstenliebe“, für die sie geschaffen wurde. Hier stehen sie einander in einem spannenden Dialog gegenüber, gegensätzlich und doch vereint im Propagieren christlicher Tugenden: die lichtvollen Verheißungen Murillos und die düster-makabren Warnungen des Valdés Leal.

In seinem Zentrum kann man die berühmte „Grablegung Christi“ bewundern, das größte Meisterwerk des Bildhauers Pedro Roldán (1624 – 1699) aus dem Jahre 1674. Diese Szene von ergreifender Dramatik wird von einem Engel geschmückten Baldachin überwölbt, getragen von vier besonders schönen, mit floralem Dekor übersäten Säulen. Wenn man diesen Hauptaltar aufmerksam betrachtet, kann man entdecken, dass sich in seiner Ikonographie auf wunderbare Weise die Komposition und die Motive der Frontfassade wiederholen. Denn im obersten Abschnitt findet man wieder die allegorischen Figuren Glaube (links; mit den Symbolen Kreuz und Kelch), Hoffnung (rechts; mit den Symbolen Anker und Olivenzweig) und im Zentrum die Liebe.

Diese aufgrund erstrangiger Kunstwerke und der ganz auf „Charitas“ ausgerichteten Ikonographie wohl schönste Kirche Sevillas wird dominiert von zwei leuchtenden Farben: vom Weiß der Stuckornamente und vom Gold des Retablo Mayor und der zahlreichen Bilderrahmen. Man könnte die Iglesia de la Caridad als „sakrale Pinakothek“ bezeichnen, da ihre Wände geradezu tapeziert sind mit Meisterwerken barocker Malkunst. Aber auch abgesehen von den Ölbildern wird man hier kaum einen Quadratzentimeter Wand ohne Schmuckelement vorfinden.
Dabei wirkt nichts überladen, sondern alles in einen unsichtbaren Rahmen, in ein übergeordnetes Prinzip eingefügt.

So ist der Hauptaltar bei weitem nicht der größte, wohl aber der schönste barocke Retablo in Sevilla und vermittelt auf wunderbare Weise Mañaras Auffassung Caridad=Belleza, d.h. Gedanken und Handlungen der Nächstenliebe sind schön und müssen so dargestellt werden. Daher präsentiert sich „La Caridad“ zugleich als barockes Monument der Nächstenliebe und als wohl schönstes Altenheim Spaniens. Zugleich gebührt Mañara das Verdienst, in einer „konzertierten Aktion“ die drei bedeutendsten Barockkünstler seiner Heimat – noch dazu „Rivalen“ – für diese Projekt begeistert, harmonisch vereint und zu ihren Hauptwerken inspiriert zu haben.