Chau Flaco

Die Musikwelt trauert. Mit Luis Alberto Spinetta verlässt einer der hellsten Sterne des argentinischen Rockhimmels die irdische Welt. Ein Ausnahmemusiker, ein Ausnahmepoet, eine Ausnahmeerscheinung. Ohne Flaco, wie sie ihn liebevoll nannten, hätte es den argentinischen Rock Nacional sicherlich auch gegeben. Aber er war es, der ihn maßgeblich vorantrieb und beeinflusste. 1967 gründete der erst 17-jährige Spinetta die Band Almendra. Zwei Jahre später folgte die erste Platte mit dem einfachen Titel Alemandra I und einem Lied, das heute jedes argentinische Kind kennt: Muchacha Ojos de Papel.

Eine einzigartige Liebeserklärung eines Heranwachsenden an seine Angebetete, mit der Bitte, sie möge doch einfach bis zum Morgengrauen bei ihm bleiben. So die Kurzform. Denn seine Wortwahl ist voller Poesie, Sinnlichkeit und Erotik. Und ein Meilenstein des Rock Argentino, obwohl der Song zu damaliger Zeit so gar nicht dem Genre entsprach. Denn schon das Einstiegsriff ist ganz anders, als man es von der damals aktuellen Musik gewohnt ist. Spineteano wird man diese Art später nennen und immer wieder zitieren, wenn ein Lied langsam zum eigentlichen Hauptteil hinführt.

Was folgt, ist eine beispielhafte Karriere, mit unzähligen Studioalben und vielfachen Stationen. Eine zweite Platte mit Almendra, dann ein Soloprojekt, ehe es mit dem Trio Pescado Rabioso und zwei weiteren Alben weitergeht. Die erste Platte post Pescado Rabioso mit dem Titel Artaud sollte eine der wichtigsten Platten seiner Laufbahn werden. Obwohl der Bandname auf dem Cover noch auftaucht, spielt Spinetta fast alle Instrumente selbst ein und entlehnt seine Texte den Werken Antonine Artauds, dem französischen Schriftsteller und Theaterschreiber, der daran glaubte, dass man das Publikum während eines Theaterstück so vehement wie nur irgend möglich in den Bann ziehen sollte.

Und auch Spinettas Musik zeigt sich verwandelt. Er wird experimenteller, melodischer und seine Texte sind von einer poetischen Leichtigkeit und dennoch in unzählige Lesarten eingebettet, so dass sie bisweilen nur schwer zugänglich sind. „Er ist der Maradona des Rock“, hat Charly Garcia, eine weitere Ikone der argentinischen Rockgeschichte, über Spinetta gesagt – und hat damit verdammt Recht. Spinettas Musik ist unglaublich elaboriert, vielfältig, manchmal experimentell und deshalb nicht immer auf Anhieb eingängig, weil sie – eben wie Maradona – immer wieder mit dem Unerwarteten aufwartet.

Man muss sich mit seinen Liedern auseinandersetzen, sonst findet man keinen Zugang. Egal, ob mit Band wie bei Invisible, Spinetta Jade, Spinetta y los Socios del Desierto oder in diversen Soloprojekten: Immer stand Musik und Text gleichermaßen im Zentrum, angetrieben von seiner hohen, ja manchmal brüchigen Stimme, die seinen Liedern eine unverwechselbare Note gab. Man denke nur an Todas las Ojas son del Viento, dem ersten Stück auf der Scheibe Artaud. Wäre es von einer heiseren Bassstimme intoniert worden… Unvorstellbar! Gleiches gilt für Muchacha Ojos de Papel; und wahrscheinlich für 90 Prozent aller seiner Lieder.

Ich durfte den Dünnen 2004 selbst erleben. In einem alten Theater in Buenos Aires spielte er zusammen mit seiner Band aus seiner damals jüngsten Scheibe Camalotus. Vom ersten Moment an zog er das Publikum in seinen Bann, obwohl fast niemand seine neuen Lieder mitsingen konnte. Und dennoch versprühten sie jene Magie, der sich fast niemand erwehren kann. Natürlich wurden auch hier irgendwann die Rufe laut, er möge doch noch einmal Muchacha Ojos de Papel spielen, aber Spinetta reagierte darauf nicht. Er wollte einfach keine Lieder spielen, die knapp 35 Jahre alt waren. Zu Recht, wie ich im Nachhinein finde, auch wenn ich das Lied damals wirklich gerne gehört hätte. Stattdessen verzückte er das Publikum mit exzellenter Musik, unzählige Anleihen aus dem Jazz und seiner virtuosen Gitarre, so dass die zwei Stunden wie im Flug vergingen. Als ich dann beim Verlassen des Theaters in die Gesichter der Konzertbesucher blickte, sah ich ausschließlich rotwangige Argentinier mit glänzenden Augen. Sie wirkten seltsam beseelt von einem ebenso wunderbaren, wie seltsamen Auftritt. Spinetta eben.

Geradlinig, ehrlich, ohne Allüren, so wird man den Musiker in Erinnerung behalten. Auch sein letzter Brief, mit dem er seine Krankheit noch im Dezember vergangenen Jahres öffentlich machte, dokumentiert dies auf einzigartige Weise. Er beginnt mit den einfachen Worten: „Mi nombre es Luis Alberto Spinetta. Tengo 61 años y soy músico. Desde el mes de Julio sé que tengo cáncer de pulmón.“ Gerade mal zwei Monate später verlor er den Kampf gegen den Lungenkrebs.

Der Tod kam für dieses Genie früh. Viel zu früh. Und auch wenn sein musikalisches Werk mit über 30 Platten der Welt erhalten bleiben wird; dem argentinischen Rock Nacional wird künftig einer seiner hellsten Sterne fehlen. Für immer.