Calderóns Welttheater in der „Puppenstube“

„…Don Rodrigo, zu so hohen Würden
führten Euch Mut und Tapferkeit…
…So will ich Euch nun raten,
dass Ihr alle Ritter sollt vereinen
von Calatrava in Almagro…“

(Lope de Vega: “Fuenteovejuna”, 1618)
Almagro? Sogar Kulturtouristen, die Spanien immer mehr als bevorzugtes Reiseziel entdecken, zucken bei der Nennung dieses Ortsnamens ahnungslos mit den Schultern. Selbst auf aktuellen Landkarten Europas würde man Almagro, das im spanischen Barocktheater immer wieder erwähnt wird, wohl vergeblich suchen. Im 16. Jahrhundert dagegen war dieser Ort auf jeder Karte verzeichnet.

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Der nordische Fachwerk-Marktplatz von Almagro. Im Rathaus steht die Fugger-Truhe

Denn Almagro gehört zu den zahlreichen Kleinstädten Spaniens, die im Goldenen Zeitalter (16. und 17. Jh.) eine glanzvolle Hauptrolle auf der Bühne der Weltgeschichte spielten und mit dem Einbruch der Moderne von dieser Bühne zurücktraten in ein verschlafenes Statistendasein. Almagro ist ein extremes Beispiel für den Sturz in die Bedeutungslosigkeit. Verloren in der Hitze flimmernden Steppe im äußersten Süden der Mancha präsentiert sich der Ort heute mit kaum 8000 Seelen als nahezu ausgestorbenes Dorf. Doch verirrt man sich hierhin, dann weht einem aus jeder Gasse der Atem der Geschichte und verblichener Ritterruhm entgegen. Denn wie schon die Eröffnungsverse von Lope de Vegas Drama „Fuenteovejuna“ verdeutlichen, war Almagro der Hauptsitz des mächtigsten und ältesten (1158 gegründeten) Ritterordens von Spanien: Calatrava.

Etwa 20 Kilometer südlich von Almagro kann man die riesige, halb verfallene Burg der Calatrava-Ritter besichtigen. Im Ort selbst erinnern viele prunkvolle Wappen über Palastportalen und vom Orden gestiftete Klöster und Kirchen an die jahrhundertelange Präsenz der Ritter mit dem blutroten Schnörkelkreuz.

Während der Reconquista und auch noch mindestens ein Jahrhundert danach waren sie oft genug die heimlichen Herrscher Spaniens.

Aber nicht nur politische Geschichte wurde hier geschrieben. Für ein paar Jahrzehnte wurde auch ein Teil der Weltwirtschaft von hier aus dirigiert. Im Jahre 1525 überschrieb Kaiser Karl V. dem Augsburger Bankiershaus der Fugger die größte Quecksilbermine der Welt im nahe gelegenen Almadén. Seine „Krönungsschulden“ bei den Fuggern ließen ihm keine andere Wahl, denn sie hatten die deutschen Fürsten mit beträchtlichen Geldsummen dazu gebracht, für Karl zu stimmen. Unter der Regie der Fugger wurde Almagro zu einer „Wall Street in der Steppe“, eines der bedeutendsten Handelszentren.

Neben dem Quecksilber aus Almadén wurden hier vor allem Wolle und Wein gehandelt. Der neue Geldadel stiftete Kirchen und baute Paläste – und einen nordisch wirkenden Marktplatz mit Fachwerk-Fenstergalerie. Doch am Anfang des 19. Jahrhunderts sank die reiche Stadt durch die anhaltende Wirtschaftskrise nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon herab zu einem verschlafenen Provinznest.
Heute ist Almagro ein Museumsdorf der spanischen Renaissance, reichlich gesegnet mit über drei Dutzend monumentaler, oft sehr renovierungsbedürftiger Kirchen. Und zur Zeit kämpft der Bürgermeister dafür, dass die UNESCO diesem schönen architektonischen Ensemble den Titel eines Weltkulturerbes verleiht.

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Monumento en Restauración: Das Schild vor dem Convento Asunción de Calatrava ist so renovierungsbedürftig wie die Kirche selbst

Ansonsten aber dümpelt das hübsche Örtchen abseits der großen Touristenströme im weiten Meer der größten Hochebene Europas vor sich hin.
Doch drei Wochen im Hochsommer jeden Jahres erwacht Almagro aus seinem Dämmerschlaf und katapultiert sich zurück in sein Goldenes Zeitalter. Mit dem „Festival Internacional de Teatro Clásico“, das in diesem Jahr vom 05. – 29. Juli stattfindet, richtet der kleine Ort das wichtigste Theaterfestival Spaniens aus. Die Frage, warum dieses ausgerechnet in diesem 8000-Seelen-Dorf stattfindet, kann leicht beantwortet werden. Denn Almagros größter Schatz ist nicht die „Fugger-Truhe“, die heute noch hier im Rathaus steht, sondern der einzige noch komplett erhaltene „Corral de Comedias“, ein Renaissance-Theater aus dem 16. Jahrhundert. Natürlich werden auf dieser Bühne bevorzugt die Dramen der spanischen Klassiker Lope de Vega (1562 – 1635) und Calderón de la Barca (1600 – 1681) aufgeführt. Aber auch Shakespeare und Molière geben sich hier die Ehre. Das Festival ist in diesem Jahr so groß wie nie zuvor, insgesamt sieben Schauplätze wetteifern um Zuschauer, dazu gibt es noch das nette Angebot eines „Kinder-Theaters“.

An ein solches fühlt man sich erinnert, wenn man den berühmten Corral de Comedias betritt. Erwartet man ein monumentales Bauwerk, so kann die spontane Reaktion nur Enttäuschung sein. Man befindet sich nämlich in einem sehr überschaubaren, niedlichen Häuschen, das eher an „Hänsel und Gretel“ erinnert. Dies soll eine würdige Bühne für Calderóns grandioses, philosophisches Drama „Das Leben – ein Traum“ oder für sein berühmtes „Großes Welttheater“ sein? Unmöglich!

Der Patio dieses zweistöckigen „Hexenhäuschens“ ist dicht gefüllt mit kleinen Holzstühlen und gleicht einer Puppenstube. Überhaupt scheint in diesem Gebäude alles kleiner als üblich. Offenbar waren Zuschauer und Akteure vor vier Jahrhunderten deutlich kleiner als heute. Auf jeden Fall waren sie härtere Sitzmöbel gewöhnt (Sitzkissen mitbringen!).

Doch als dann die Aufführung um elf Uhr nachts beginnt, weicht alle Skepsis; genau in dem Moment, als die schöne Rosaura die ersten Verse von Calderóns „La Vida es Sueño“ feierlich in den Sternenhimmel spricht, als seien es Zauberformeln. Und da ist plötzlich wieder die Faszination des genialen Gedankens, dass alles menschliche Glück und Elend, Reichtum und Armut, nur ein Traum sei, aus dem jeder jederzeit erwachen könne, sei es durch Tod oder unerwartete Wende des Schicksals. So wie die Hauptfigur des Dramas, der verstoßene Königssohn Segismundo, der im Kerker aufwächst, eines Tages in tiefen Schlaf versetzt wird, um unerwartet auf dem Königsthron zu erwachen. Dann aber aufgrund seiner barbarischen Herrschaft, wieder im Kerker landet. Zu guter Letzt wandelt sich Segismundo zum besonnenen Herrscher und spricht: „Ein Traum war mein Lehrer“.

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Leben auf der Plaza Mayor

Wenn man mitten in der Nacht aus dem „Theatertraum“ hinaustritt in die von alten Laternen erleuchteten Gassen von Almagro, so scheinen einem folgende Zeilen aus Calderóns Drama nachzuhallen. Denn sie spiegeln auch das Schicksal dieser einstigen aristokratischen Handelsmetropole wider, die heute in den provinziellen Dämmerschlaf zurücksinkt, sobald die Pforten des Theaters sich wieder schließen:

„…verschwunden zwischen den Schatten
alle Größe und alle Macht,
alle Majestät und aller Prunk.
So lasset uns genießen
die Zeit, in der wir alles haben…
…denn alles Glück der Menschen
vergeht am Ende wie ein Traum…“

(Calderón de la Barca: „Das Leben – ein Traum“, 1635)