Buenos Aires – Einfach nur ankommen

Natürlich hat der Flieger Verspätung. Immerhin musste er das halbe Land durchqueren. Und bei knapp 2.500 Kilometern kommt man in Argentinien tatsächlich eben nur durchs halbe Land. In meinem Falle ist das von Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt, ehe die Antarktis beginnt, in mein geliebtes Buenos Aires. Ich will endlich raus aus der Kälte und den Spätsommer in der Stadt ausklingen lassen. Dort unten am oft zitierten Ende der Welt ist es auch im Sommer trotz Sonnenschein empfindlich kühl, insbesondere wenn der Wind bläst. Ein Grund mehr, sich auf besseres Wetter zu freuen. Nicht einmal im Flugzeug ist es wohlig warm, im Gegenteil: Unaufhörlich frostet mir diese künstliche Trockenluft entgegen. Eine Eigenheit, die man auch in den Überlandbussen erfahren kann. Zumindest wenn die Aire Acondicionado nicht hinüber ist. Dann kann‘s, je nachdem welches Gebiet man gerade durchquert, auch richtig heiß werden.

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Irgendwann aber setzen wir doch noch wohlbehalten in Ezeiza, dem internationalen Flughafen von Buenos Aires, auf. Planmäßig hätten wir allerdings am Aeroparque landen sollen. Da nämlich starten und landen für gewöhnlich die nationalen Maschinen. Sei‘s drum. Wenn mein Abholservice keine Dumpfbacke ist, dann sollte er das schon irgendwie mitbekommen haben. Kaum setzt der Pilot zur letzten Schleife an, stehen alle Argentinos und kramen furchtbar schnell ihre Habseligkeiten aus Plastikboxen über ihren Köpfen heraus. Dieses eine Mal bin ich froh, dass ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheit einen Fensterplatz habe. Ansonsten wäre ich sicherlich genötigt worden, ebenfalls sofort aufzuspringen und mich in den Mittelgang pressen zu lassen. Schneller kommen die Passagiere zwar deshalb auch nicht raus, aber schon die gefühlte halbe Minute scheint den Leuten hier eine unheimliche innere Befriedigung zu verschaffen.

Als ich die Gangway runtermarschiere, hat das Drangsal mit kalter Luft endlich ein Ende. Elf Uhr nachts, eine wohlig warme Abendstimmung empfängt mich. Sogar ein paar Sterne sind am Himmel zu sehen. Am Kofferband spielen die Einheimischen dann erneut ihre Spielchen mit dem „Vorteilverschaffen“. Allem Anschein nach ist das Procedere, den anderen mehr oder weniger beiläufig vom Platz am Förderband wegzudrängen, ein elementarer Teil des Fliegens. Kurzzeitig schießt mir der Begriff „Mallorca“ durch den Kopf. Eine bunte Mischung von Menschen, die an der Gepäckausgabe um die vermeintlich besten Plätze kämpfen und einen auf Tuchfühlung machen. Nun ja, lustig ist das ja schon irgendwie. Zumindest wenn man es selbst nicht eilige hat und am Band nach dem Koffer giert. Dennoch müssen wir uns 20 Minuten gedulden, ehe das Band sich überhaupt in Bewegung setzt. Als ich endlich samt Gepäck durch die Milchglastür trete, bin ich angenehm überrascht. Da wir auf irgendeinem Nebenterminal abgefertigt wurden, gibt‘s kein Gedrängel und auch keine lästigen Taxifahrer, die einen übers Ohr hauen wollen (die gibt‘s sogar im sonst so europäischen Buenos Aires).

Mein Fahrer hat offensichtlich mitbekommen, dass ich nicht im Aeroparque gelandet bin. Zumindest denke ich, dass der Herr hinter dem niedrigen Geländer mit dem bekritzelten Pappdeckel in der Hand mein Abholservice ist. Irgendwas mit „Señor …drea… Alemania“ steht drauf. Der Herr, der das gute Stück vor seine Brust hält, ist Anfang 30, schlurfiger Typ, aber auf den ersten Blick nett. Dieses Nette beschränkt sich allerdings aufs Äußere. Richtig erfreut ist er nämlich nicht, dass ich seiner Sprache mächtig bin. Unterhalten will sich Daniel Ortiz mit mir eigentlich nicht. Das wird sehr schnell klar, als wir im Auto gen Innenstadt sitzen. Die hinteren Fensterscheiben sind halb heruntergelassen und die Musik muss zwangsläufig überlaut aus den Lautsprechern sumpfen. Ein Bild, das man in Deutschland nur von der Dorfjugend auf dem Land kennt.

Ich schließe für einen Moment die Augen. Die warme Abendluft der Stadt umgarnt mich, fremde und altbekannte Gerüche wehen mir entgegen. Die Dorfjugend ist glücklicherweise verdammt weit weg. Das Schöne an einer Ankunft in Ezeiza ist, dass man sich ganz langsam an die Metropole gewöhnen kann. Erst mal kommt ein bisschen Brachland, dann Militärsportplätze, dann ein paar Häuser – und plötzlich ist man mittendrin im urbanen Leben. Ungeheuer viel gelbes Licht, das um die Wette blinkt, und aus dem Lautsprecher dröhnt Los Caminos de la Vida – ein Solo-Hit von Vicentico, dem Kopf der wiedervereinten Band Los Fabulosos Cadillacs.

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Mein Weg führt mich schnurstracks nach San Telmo. Da nämlich befindet sich mein Hotel für meine erste Nacht in Buenos Aires. Es ist weit nach Mitternacht, und auch wenn sich eine gewisse Grundmüdigkeit in meine Glieder schleicht, der Kopf ist wach und der Magen tut sein übriges, um nicht sofort ins Bett zu fallen. Essen um diese Uhrzeit ist kein Problem. Gut essen allerdings schon. Die Parillas sind unter der Woche nicht immer bis drei Uhr morgens geöffnet, wobei allein der Gedanke an ein gutes Stück Fleisch mehr als verlockend ist. Also gehe ich ein paar Schritte. Hinaus aus San Telmo, weg vom Zuhause des Tangos, der hier eigentlich rund um die Uhr getanzt werden sollte. Viele Touristen verschlägt es in dieses Viertel, um nostalgisch penetrant in den Mythos Tango einzutauchen. Inzwischen ist es eine Mischung aus Touristenfalle und Geheimtipp. Wie überall auf der Welt. Neben dem einbeinigen Bettler am Straßenrand kommt gleich ein angesagtes Tanzrestaurant. Así es la vida…

Avenida 9 de Julio, die breiteste Straße der Welt. Viel ist nicht mehr los. Wo man bei Tageslicht immer nur knapp dem tödlichen Verkehrsunfall entkommt, herrscht jetzt gähnende Leere: ein paar Taxen, ein knutschendes Pärchen, das auf der Suche nach einem Telo ist – der argentinischen Variante eines Stundenhotels, mit dem Unterschied, dass es hier deutlich mehr Akzeptanz genießt (sieht man vom eifersüchtigen Partner mal ab…). Der Obelisco leuchtet meiner Nachtruhe entgegen und ich wechsle gemütlich die Straßenseite, um endlich anzukommen in der Stadt, die ich gemeinhin als meine bezeichne.

Heute Nacht gehört sie mir tatsächlich. An der Ecke Belgrano und 9 de Julio habe ich einmal gelebt und ich weiß genau, wo man den besten Pancho der Stadt bekommt. Ein Würstchen im Brot oder neudeutsch auch Hotdog genannt, heißt hier einfach nur Pancho. Ein Stehlokal, aus dem grelles Licht dringt und vor dem allerlei abgehalfterte Gestalten herumlungern. Immer wieder ein bizarrer Anblick. Aber genau das ist Buenos Aires bei Nacht. Abseits vom Trubel der angesagten Ecken, pulsiert ein ganz anderes Leben. Es pulsiert im Rhythmus des Überlebens…

Ich freue mich auf das labbrigeBrötchen mit der roten Industrie-Wurst, die eigentlich nach gar nichts schmeckt. Deshalb gibt‘s in den richtig guten Pancho-Läden auch jede Menge „Geschmacksverstärker“. Da ich aber nicht im Fünf-Sterne Pancho-Stehladen bin, sondern nur in dem mit drei Sternen, gibt‘s lediglich Ketchup, Senf, Zwiebeln und natürlich Chimichurri: eine Marinade mit Zwiebeln, Tomaten, Kräutern und allerlei anderen Dingen, die auf keinem Asado fehlen sollten. Aber eben auch nicht auf dem Pancho. Denn nur mit dem scharfen Zeug schmeckt der argentinische Hotdog so, wie er soll.

Nachdem der erste keine zehn Sekunden überlebt, bestelle ich gleich zwei weitere hinterher. „Dir hat‘s geschmeckt, oder?“, fragt mich ein müdes Augenpaar. Ich nicke. Hier bin ich also. Mitten in Buenos Aires, im Pancholand um halb vier morgens. Eigentlich gibt es nichts Schöneres, als nach zu vielen Bieren vor dem nach Hause gehen noch einen Pancho in den Rachen zu schieben. Ich aber bin stocknüchtern. Den Pegel der übrigen Gäste werde ich auch nicht mehr aufholen mit dem doch eher seichten lokalen Bier. Heute ist es phantastisch, so, wie es ist. Ich schwitze, der Ventilator versucht mir das Hemd vom Körper zu reißen, im Hintergrund jammert der Fernseher vor sich hin und mein Magen füllt sich, was ja auch Sinn und Zweck meines Spazierganges war. Mein Herz allerdings hat noch lange nicht genug und es wird sicherlich nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich kurz vor Sonnenaufgang dem argentinischen Hotdog fröne. Ehrlicher Weise muss ich gestehen, dass er nicht wirklich gut schmeckt. Aber er ist definitiv Bestandteil der Nacht.

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Anmerkung des Autors: Pancho-Läden gibt‘s an jeder Ecke, zumindest aber an jeder dritten. Wer beim Besuch von Buenos Aires die argentinische Variante des Hotdogs nicht gekostet hat, kann eigentlich nicht behaupten, er hätte das wahre Buenos Aires gesehen. Dies sollte meiner Meinung nach auch in jedem guten Reiseführer stehen. Ach ja, solltet ihr auf euren nächtlichen Streifzügen durch die Stadt einmal Pati auf der Speisekarte finden, so handelt es sich um eine weitere argentinische Spezialität: den Burger. Und auch der ist hier im Fleischland durchaus annehmbar.