Bücher zu Lateinamerika (11/2010)

Nikolaus Werz’ Einführung zu Lateinamerika liegt in einer zweiten, aktualisierten Fassung vor. Das Werk des Rostocker Universitätsprofessors für Vergleichende Regierungslehre ist in der Reihe „Studienkurs Politikwissenschaft“ erschienen und richtet sich denn auch vornehmlich an Geschichts- und Politikstudenten. Es ist in 15 Kapitel unterteilt, da es sich an „die durchschnittliche Veranstaltungszahl eines Semesters anlehnt“ und behandelt dort Themen wie Gesellschaftsstruktur, Populismus, Religion, Rechtsstaat, Parteien, Demokratie, Politische Kultur etc. (ich hätte mir ein Kapitel zur wichtigen Rolle der Medien gewünscht).

Nikolaus Werz
Lateinamerika: Eine Einführung
418 S., 24,90 €
Nomos, Baden-Baden, 2. Auflage, 2008

Politik steht im Zentrum der Betrachtung dieser Einführung, trotzdem gibt es zu Beginn eine landeskundliche Einführung, die meiner Meinung nach leider etwas zu kurz geraten ist, vor allem der Teil über die „Kultur“ – einige der 22 Seiten des viel zu speziellen Kapitels über die Deutsche Lateinamerikaforschung hätten dafür eingespart eingespart werden können. Natürlich lässt sich darüber diskutieren, inwieweit Literatur, Film, Malerei, Musik etc. in einem politikwissenschaftlichen Werk erwähnt werden sollen, aber mit Einschränkungen spielen sie oft auch bei politischen Veränderungen eine essentielle Rolle, werden aber gerne vernachlässigt. Darüber hinaus sollten sich Lateinamerikaforscher fragen, wie das Interesse junger Menschen/Studenten an diesem Kontinent entsteht, wohl eher selten durch empirische Untersuchungen zu politischen Systemen…

Von diesem Defizit abgesehen, handelt es sich um eine sehr guten Überblick Lateinamerikas, seiner Geschichte und politischen Systeme, wobei die „großen“ Staaten stärker gewichtet werden als die mittelamerikanischen oder Anden-Länder. Da es sich um ein Studienbuch handelt, findet sich am Ende eines jeden Kapitels ein didaktischer Teil mit vertiefenden Fragen, Literatur- und Filmtipps sowie Links; Tabellen und Grafiken im Text bieten, wo nötig, gute Überblicke.


Im Nomos-Verlag sind zwei weitere Werke zu Lateinamerika erschienen. In ihrer Festschrift für Prof. Andreas Boeckh aus der Reihe „Weltregionen im Wandel“ vertiefen Patricia Graf, Thomas Stehnken und weitere Schüler und Weggefährten Boeckhs einzelne Aspekte des Kontinents.

Patricia Graf / Thomas Stehnken (Hrsg.)
Lateinamerika: Politk, Wirtschaft und Gesellschaft
244 S., 45 €
Nomos, Baden-Baden, 2008

Aus dem Themenspektrum der 14 Beiträge, das von der Erdölwirtschaft in Venezuela bis zur chilenischen Literatur reicht, möchte ich drei hervorheben, die zentrale Themen für einen möglichen „Wandel“ des Kontinents zum Positiven behandeln: „Was hält moderne, komplexe Gesellschaften zusammen? Was befähigt sie dazu, sich kollektive Ziele zu setzen und diese erfolgreich zu verfolgen?“, fragt Christian von Haldenwang zu Beginn seines Artikels. Und wer nun denkt, dass er über das Nationalgefühl schreibt, liegt weit daneben. Er beschäftigt sich mit den Steuersystemen Lateinamerikas, beschreibt ihren Zustand, ihre weitreichenden Defizite und deren Folgen für den internen Zusammenhalt der lateinamerikanischen Gesellschaften. Hartmut Sangmeister behandelt den „Technologischen Wandel und die internationale Wettbewerbsfähigkeit Lateinamerikas“ und zeichnet ein eher düsteres Bild des Ist-Zustands dieses Kontinents, der dabei ist, den Anschluss an die Wissensgesellschaft zu verpassen. Sangmeister zeigt Alternativen auf, doch leider weckt die Lektüre der vielfältigen Herausforderungen in mir Zweifel, ob die Gesellschaften Lateinamerikas (heute) in der Lage sind, diese anzugehen. Was häufig an ihren Eliten liegt, womit wir beim dritten, wichtigen Beitrag wären: H.C.F. Mansilla hat sie zum Thema gewählt und nach der Lektüre seines Artikels haben die Zweifel eher zugenommen, ob der Kontinent (mit Ausnahme von Chile und Brasilien) es aus eigener Kraft schafft, eine bessere, vor allem gerechtere und ökologischere Zukunft zu gestalten. Die Eliten müssten diese Artikel lesen und verstehen, dann gäbe es mehr Hoffnung.


Auch der von Peter Birle herausgegebene Band befasst sich mit dem Wandel des Kontinents. In elf Beiträgen stellen deutsche Lateinamerika-Experten die Wandlungsprozesse kontinentübergreifend sowie in fünf Ländern dar. Dabei spielen wieder die Eliten eine wichtige Rolle, die – so die Analyse von Peter Thiery – nur in drei Ländern (Chile, Costa Rica, Uruguay) gelernt haben, Demokratie als Ziel an sich zu begreifen und sie nicht nur als Mittel auf dem Weg zur Macht zu sehen. Gleichwohl gilt auch dort noch, dass die demokratischen Institutionen durch Skandale etc. schnell aus dem Gleichgewicht gebracht werden können.

Peter Birle (Hrsg.)
Lateinamerika im Wandel
248 S., 39,90 €
Nomos, Baden-Baden, 2010

Ebenso wichtig wie ein funktionierendes Steuersystem ist zur Stabilisierung der Demokratie ein gesichertes staatliches Gewaltmonopol. In diesem Zusammenhang wecken die täglichen Schreckensmeldungen aus Mexiko keine großen Hoffnungen. Das gilt auch für die Prozesse der regionalen Integration, die Peter Birle analysiert. Schon Hartmut Sangmeister stellt in seinem Beitrag fest, dass die Integrationsbündnisse kaum zu einer Veränderung der traditionellen Wirtschaftsbeziehungen geführt haben. Birle konstatiert, dass es zwar einige Fortschritte bei der ökonomischen Integration gegeben habe, eine politische Integration aber nicht existiere, da lateinamerikanische Regierungen immer selbst die letzte Entscheidungsgewalt besitzen wollen. Die Länderartikel beschäftigen sich mit der politischen Situation in Bolivien, Brasilien, Chile, Mexiko und Venezuela, zumeist anhand der Analyse von Amtszeiten einzelner Präsidenten (Lula, Fox, Bachelet).

Beide Sammelbände vermitteln einen Eindruck von der aktuellen Situation in Lateinamerika und ergänzen sich gut. Thematische Überschneidungen bleiben nicht aus, halten sich aber in Grenzen. Einige Regionen – Mittelamerika, Andenstaaten, Karibik – kommen jedoch zu kurz, so dass dort eine ergänzende Lektüre notwendig ist. Und Paraguay scheint für fast alle Lateinamerika-Experten in Deutschland inexistent zu sein!

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