Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana (14)

10. Juni 2013. Wir stehen wieder vor unserer Lieblingskathedrale, wo wir vor fast einem Jahr unsere Jakobsweg-Wanderung abbrechen mussten. „Wenn ihr hier in Burgos den Weg beginnt, kann ich euch keinen Stempel für den Pilgerpass geben!“ Dies verkündet uns, arrogant im Ton und mit leicht dümmlichem Gesichtsausdruck, das unfreundliche Mädel im Pfarrbüro der Kathedrale von Burgos.

Von „beginnen“ kann ja wohl keine Rede sein! Wir haben schon fast 400 Kilometer zurückgelegt auf Europas großem Pilgerweg: von Somport bis Burgos. Das war zwar vor einem Jahr, aber man muss selbstverständlich exakt wieder dort starten, wo man mangels ewigen Urlaubs aufgehört hat. Meine sehr temperamentvolle andalusische Begleiterin Cayetana ist so in Rage über die Arroganz der „Herrin der Stempel“, dass ich sie nur mit Mühe zurückhalten kann. Fast hätte sie der Angestellten des Domkapitels den Stempel aus der Hand gerissen. Wegen der pilgerfeindlichen Haltung der jungen Dame müssen wir erstens den vollen Eintrittspreis für die Kathedrale ohne Pilger-Rabatt bezahlen – Cayetana schleudert die 7 Euro mit Anlauf auf die Theke – und zweitens klafft seitdem in unserem Pilgerpass eine hässliche Lücke. Sehr ärgerlich!

Wir beruhigen uns erst, nachdem wir wieder eingetaucht sind in die grandiose Bilderwelt der Sternenkuppel-Kathedrale von Burgos, die uns schon im August 2012 so beeindruckt hat. Gott sei dank ist Burgos eine sehr schöne Stadt, es gibt viel zu sehen: prächtige Kirchen, schöne Plätze und die grüne Uferpromenade. Daher wird uns die unfreiwillige Wartezeit hier nicht zu lang. Wir müssen nämlich zwei Tage auf meinen Rucksack warten – Air Berlin hat es nicht geschafft, ihn zusammen mit mir nach Spanien zu transportieren. Heute wurde er endlich geliefert, so dass wir morgen bei Sonnenaufgang endlich los marschieren können.

Um vor dem morgigen Marsch noch einmal tüchtig Kalorien zu tanken, sitzen wir beim Abendessen im Restaurant „Gaona“. Vor mir eine saftige Lammhaxe und vor Cayetana – fast nichts. Denn sie ist inzwischen „endgültig“ zur Vegetarierin geworden. Während ich an der Lammhaxe knabbere, beschreibt sie mir sehr detailliert ein süßes, unschuldiges Lamm, wie es noch vor ein paar Tagen über die Wiesen gesprungen ist, bevor ihm die Kehle durchgeschnitten wurde. Ich halte mir die Ohren zu und verteidige mich: „Schließlich hat sogar Jesus Lammfleisch gegessen…“ Als sie den Kellner nach einem vegetarischen Gericht fragt (in Kastilien! In Burgos, der „Blutwurst-Hauptstadt“!) schaut dieser sie an wie eine Außerirdische und antwortet trocken: „Brot!“ Diesmal bleibt sie konsequent und isst tatsächlich nur Brot, meinen Beilagensalat und zweimal Pudding. Ich bin besorgt. Falls sie diese vegetarische Masche wirklich durchziehen will, wird sie wohl lange vor Santiago verhungert sein.

11. Juni 2013. Um 6 Uhr früh brechen wir endlich wieder auf Richtung Westen und mit 32 Kilometern ist unsere erste Tagesetappe schon ehrgeizig geplant. Zum Glück lassen wir die westlichen Vororte von Burgos bald hinter uns und kommen zügig voran. Am Ortsausgang grüßt ein Graffito: ein Pilgerpaar, eine hellblaue, grinsende und eine dunkelblaue, eher geplagt wirkende Gestalt, weist den Wanderern den Weg. Überraschend schnell verlieren sich die Spuren der Stadt und unser Pilgerpfad schlängelt sich durch die Einsamkeit der kastilischen Steppe, der großflächigsten Landschaft Europas. Und diese Steppe ist jetzt nicht strohgelb verbrannt wie vergangenes Jahr im August vor Belorado, sondern präsentiert sich im üppigsten Grün mit Millionen von roten Mohnblumen, lila Disteln, gelbem Ginster, violetten Lilien und anderen Blüten, deren Namen wir gar nicht kennen. Darüber schweben Wolken von kleinen, oft tiefblauen Schmetterlingen. Diese faszinierende Blütenpracht ist auch das Ergebnis des regenreichsten Frühlings, den Zentralspanien seit langer Zeit erlebt hat.

Cayetana ist euphorisch. Sie kannte nur die üblichen Fotos, die Kastilien als sonnenverbrannte Weizenwüste zeigen und ist überwältigt von dem unerwarteten Blumenmeer am Wegesrand. „Noch nie hab ich Kastilien so grün gesehen!“, ruft sie mir zu. Gerade kniet sie erneut vor einem im Wind flatternden Blumenstrauß, der am Wegesrand wächst. „Also Cayetana, wenn Du jetzt hier jede Blüte einzeln fotografierst, kommen wir in einem Monat so etwa drei Kilometer weit“, gebe ich zu bedenken. Sie verzieht das Gesicht, erhebt sich aber und schreitet mürrisch weiter. Scheinbar endlos breitet sich die Landschaft vor uns aus, der Wind jagt Wolkenschatten über die grünen Äcker und der Weg verliert sich bis zum Horizont. Es ist weder richtig heiß noch kalt, der heftige Steppenwind lässt die Temperatur kühler wirken als sie ist. Trotzdem hat man ständig Durst. „Weißt Du, was echt toll ist?“, fragt Cayetana gegen den orgelnden Wind, „das Wasser, das man schon getrunken hat, braucht man nicht mehr zu tragen, da wird der Rucksack immer leichter…“ Cayetanas philosophische Lebensweisheiten sollte man sich eingerahmt übers Bett hängen.

Um die zwei verlorenen Tage aufzuholen, marschieren wir nun fast ohne Pause durch Kastiliens Felder unserem Tagesziel entgegen: Hontanas. Ein Dörfchen von 20 Häusern mitten im Nirgendwo. Offiziell 73 Einwohner – und doppelt so viele Pilger. Normalerweise wäre dieses Dorf in der Steppe halb verfallen und halb verlassen wie so viele kleine Dörfer in entlegenen Gebieten von Kastilien oder Aragón. Aber Gott schenkte Hontanas eine Lage mitten auf dem Camino. Durch den Boom, den der populäre Pilgerweg seit zwei Jahrzehnten erfährt, hat dieser Ort seine Renaissance erlebt. Heute lebt praktisch das ganze Dorf von den durchziehenden Pilgerscharen. Es gibt hier vier Pilgerherbergen mit zusammen über hundert Betten und Hontanas ist ziemlich konkurrenzlos, denn im Umkreis von 30 Kilometern gibt es – nichts! Ein Glücksfall für die erfindungsreichen Bewohner von Hontanas: so wurden aus Bauern Herbergseltern, Köche, Kellner und Fremdenführer. Nicht dass es hier viel Spektakuläres zu sehen gäbe. Nach unserer Ankunft in der Herberge „Santa Brígida“ bricht Cayetana zu einem Besichtigungsrundgang auf. Nach fünf Minuten kommt sie zurück: „Ein entzückendes Kaff, aber ich hab schon alles gesehen.“

Jetzt gibt es erstmal von tatkräftigen Freiwilligen zubereitete Paella für alle mit reichlich Rotwein. Beim Abendessen lernen wir eine sympathische Rentnerin aus Madrid kennen, Conchita. Sie ist eine leidenschaftliche Hobbyfotografin und überredet uns, mit ihr auf einen Hügel nahe dem Dorf zu klettern, um von dort die Aussicht und später den Sonnenuntergang zu fotografieren. Flink wie eine Gams spurtet sie, die Kamera schussbereit in der Hand, den Dorfhügel zum Mirador El Puntido empor und dem Sonnenuntergang entgegen. Diese dynamische „Turbo-Oma“ scheint direkt einem Almodóvar-Film entsprungen zu sein. Jedes zweite Wort aus ihrem Mund ist „bonito“ und jedes dritte „espectacularrr“, wobei sie das „r“ so heftig rollt, dass uns beim Zuhören schwindelig wird. Wie viele Städter auf dem Land fotografiert sie so ziemlich alles, vom Misthaufen bis zum Sonnenuntergang. Dieser ist mitten in der Steppe alles andere als „espectacular“. Viel schöner dagegen das Bild der Dorfkirche mit Mudéjarturm zwischen zwei im Wind flatternden Fahnen: Löwe und Burg Kastiliens und die zwölf goldenen Sterne Europas auf tiefblauem Grund. Lange können wir dieses Bild nicht auf uns wirken lassen, denn plötzlich stürmt mit viel Geschrei eine Gruppe von Jugendlichen an uns vorbei und verschwindet hinter einer mysteriösen Tür mitten im Berg. Das macht uns neugierig.

Die einheimische Jugendgang entführt uns in ein altes Kellergewölbe, wo offenbar jeden Abend die Pilger-Party steigt. Sie lassen einen großen Bocksbeutel kreisen, aus dem jeder sich bedienen soll. Es geht darum, sich zur Unterhaltung der Umstehenden den Inhalt in hohem Bogen treffsicher in den Hals zu gießen, ohne dass die Hälfte auf dem Hemd landet. Der Inhalt ist schrecklich schmeckender Roséwein, aber immerhin umsonst. „Das ist Europa!“, ruft in schlechtem Spanisch und mit euphorisch glitzernden Augen, die schon lange nicht mehr nüchtern blicken, ein US-Boy aus Seattle, bevor er wieder einen glitzernden Strahl schluckt. Nun ja, hoffen wir mal, dass Europa für ihn mehr ist als sich gratis in Jakobus Namen zu besaufen.

Wir verlassen die „Bodega“ und blicken uns um. Die Sonne ist untergegangen und Europas zwölf Sterne (kann es überhaupt eine schönere Flagge geben?) flattern stolz und unbesiegbar neben dem arabisch aussehenden Kirchturm im Dämmerlicht. Aber ja, DAS ist Europa! Nicht gierige Investmentbanker in London, die mit ein paar Mausklicks Existenzen vernichten oder EU-Politiker im Brüsseler Beamtenschlaf, die nur die Tage bis zu ihrer Doppelrente zählen. Das hier ist Europa: ein Weg geschaffen von Europäern, der alte Kultur bis ins kleinste Dorf brachte, blühende Natur drumherum und Menschen, die langsam wieder erkennen, dass Glück und Zufriedenheit eben nicht proportional mit dem Bankkonto wachsen, sondern im Einklang mit sich und der Welt wurzeln. Wenn hier in einem spanischen Provinzkaff in der Steppe in zwanzig Häusern völlig verschiedene Menschen aus dreißig Nationen zusammen kommen weil sie, warum auch immer, den gleichen Weg gehen und, wenn auch nur für kurze Zeit, dasselbe Ziel haben: auf dem Sternenweg nach Santiago! Viva Hontanas!

Text + Fotos: Berthold Volberg

 

Tipps und Links:
Etappe von Burgos nach Hontanas: ca. 32 Kilometer

Unterkunft in Burgos:
Städtische Pilgerherberge, Calle Fernán González 28 – 32, direkt am Camino, kurz vor San Nicolás und Kathedrale, Tel. 947-460922: modern, groß und zentral, Waschmaschine, Trockner, Küche, Internet. Übernachtung 5 Euro.

Wer in der schönen Stadt Burgos länger als 1 Tag bleiben und/oder komfortabler übernachten möchte, dem sei folgendes Hotel empfohlen: Hotel „Abadía – Camino Santiago“, C. Villadiego 10, Tel. 947-040404
email: reservas@hotelabadiacaminosantiago.com
website: http://www.hotelabadiaburgos.com/?gclid=CJLI8_j4gLsCFRLMtAodfTIARw
Modernes 3-Sterne Hotel, ideal für einen „Pausentag“, direkt am Camino de Santiago am Ortsausgang von Burgos gelegen (das hat den Vorteil, dass man beim Start früh morgens schon nach ein paar Minuten die Stadt hinter sich lassen kann und dabei einen „Vorsprung“ vor den Pilgermassen hat, die zur gleichen Zeit im Ortszentrum aufbrechen). Freier Internetzugang, kleine Bar im Eingangsbereich. Übernachtung (ohne Frühstück, verschiedene Zimmertypen): zwischen 40 und 65 Euro.

Verpflegung in Burgos:
Restaurant „GAONA“, C. Paloma 41 (rechts hinter dem Kathedralenplatz), Tel. 947 279612. Authentisch, immer voll, tüchtige Bedienung. Sehr gutes Menü für 12 – 15 Euro (3 Gänge plus 1 Flasche Wein, sehr zu empfehlen: zarte Lammhaxe, hausgemachter Flan-Pudding, Rotwein der Region Ribera del Duero)

„Confitería Alonso“, an der Plaza Mayor, mit Seiteneingang an der Uferpromenade Paseo de Espolón, einer der traditionsreichsten „Törtchentempel“ von Burgos

Souvenirs:
„EL PEREGRINO“
Pza. del Rey San Fernando, 1
09003 BURGOS – Burgos
Schmuck aus Keramik mit Motiven der Kathedrale von Burgos, z.B. Fensterrosen als Amulett und Ohrringe: www.kimuceramica.com

Kirchen in Burgos:
Kathedrale Santa María in Burgos: www.catedraldeburgos.es/
Geöffnet: Di. – So. 9.30 – 19.00 (schließt im Winter eine Stunde früher!, die Capilla del Cristo de Burgos und die Capilla de Santa Tecla sind oft für Besichtigung geschlossen) Eintritt: 7 Euro, für Pilger die Hälfte.

Cartuja de Miraflores (Kartäuserkloster): www.cartuja.org
Großartige spätgotische Klosterkirche (15. Jh.) ca. 4 Kilometer außerhalb südöstlich von Burgos, ebenso wie der größte Teil der Kathedrale erbaut von Johann von Köln und Simon von Köln, mit zahlreichen Kunstschätzen: wunderbarer spätgotischer Hochaltar von Gil de Siloe mit Schwindel erregendem Detailreichtum, ebenfalls vom genialen Gil de Siloe sind die königlichen Grabmäler aus Alabaster, mit Löwen, die dem Betrachter die Zungen herausstrecken: Zudem filigranes Chorgestühl, beeindruckende Statue des Heiligen Bruno vom Barockbildhauer Manuel Pereira und im Museum zahlreiche Gemälde und Skulpturen. Eintritt frei, Spenden willkommen. Geöffnet: Mo. – Sa. 10.30 – 15.00 und 16.00 – 18.00, sonntags 11.00 – 15.00 und 16.00 – 18.00. Sonntagsmessen um 10 und 15 Uhr

Kloster Las Huelgas Reales
Monumentale frühgotische Klosterkirche des Zisterzienser-Ordens im Westen von Burgos mit zahlreichen Königsgräbern und romanischem Kreuzgang, leider nur mit Führung zu besichtigen und strenges Foto-Verbot. Eintritt: 5 Euro. Geöffnet: Di. – Sa. 10.00 – 13.00 und 16.00 – 17.30, sonntags 10.30 – 14.00, Mo. geschlossen

Kirche San Nicolás
Spätgotische Kirche schräg gegenüber der Kathedrale, schöner spätgotischer Hochaltar aus Alabaster. Geöffnet: Di. – Sa. 12.00 – 13.30 und 17.00 – 19.00 (davor und danach Messen), sonntags nur zu den Messen

Kirche San Gil
Die vielleicht schönste Pfarrkirche von Burgos, spätgotisch mit schönen Hochaltären, meist nur zu den Messen geöffnet

Unterkunft in Hontanas:
Private Pilgerherberge Santa Brígida, Calle Real 15, Tel. 628-927317. Sehr empfehlenswert. Verfügt über Waschmaschine und Trockner, Küche und kleinen Laden, zudem kleines Restaurant, in dem die Pilger (wegen des begrenzten Platzes abends meist in zwei Schichten) Abendessen bestellen können. Sehr freundliche und sympathische Betreuung. Übernachtung 7 Euro.

Verpflegung in Hontanas:
Private Pilgerherberge Santa Brígida, Calle Real 15, Tel. 628-927317. Bietet Pilgermenüs für 9 Euro, meist Paella oder Eintöpfe plus Salat.

Kirchen in Hontanas:
Pfarrkirche der Unbefleckten Empfängnis (Iglesia de la Inmaculada Concepción) von Hontanas: klein, mit interessantem Turm im Mudéjarstil mit angedeuteten Hufeisenbögen, meist geschlossen.