Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana (12)

Dienstag, 29. August 2012. Golden im Licht der aufgehenden Sonne, aber auch wie befürchtet etwas öde liegen die Felder Kastiliens vor uns. Wir passieren den ersten offiziellen Wegweiser des Camino am Eingang ins spanische Kernland, das mit der größten Steppe Europas weite (und scheinbar endlose) Strecken des Jakobsweges prägen wird.

Camino-de-Santiago-2013--hFür den heutigen Tag haben wir uns aber nicht viel vorgenommen. Die nur 17 Kilometer bis nach Belorado sind nach zwei langen Etappen durch die Rioja ein sehr überschaubares Tagespensum. So schreiten wir ohne Eile durch die abgeernteten Weizenfelder.

Die morgendliche Stille wird immer wieder unterbrochen durch das Hupen eines riesigen LKWs, der die nahe Nationalstraße entlang fährt und offenbar jeden Pilger mit seinem aufmunternd gemeinten Hupsignal begrüßt.

„Nun, da hat er viel zu tun, eigentlich kann er auf Dauer-Hupton schalten“, kommentiert meine Begleiterin Cayetana. Denn trotz der frühen Stunde sind wir nicht allein unterwegs Richtung Westen – Dutzende von Pilgern marschieren in einer ansehnlichen Kolonne hintereinander über den Feldweg nach Belorado.

Obwohl wir sehr schnell wandern (Cayetana nennt es stolz „Flamenco-Tempo“), werden wir plötzlich überholt von einer älteren, dünnen und verbissen aussehenden Frau, die ihren Blick beim Laufen stur auf den Boden richtet. Sie hat den Gesichtsausdruck einer unterzuckerten Marathonläuferin wenige Meter vor dem Ziel. „Sollen wir uns das gefallen lassen?“, fragt Cayetana und spurtet hinterher, um ihrerseits zum Überholen anzusetzen.

Camno-de-Santiago-2013-3-8823Camno-de-Santiago-2013-3-8825In diesem Moment kommt uns ein Bauer mit seinem Esel entgegen. Dann hören wir, wie die grimmige Marathonläuferin dem armen Bauern auf Deutsch die Worte zuraunt: „Falsche Richtung!“ Wir schauen uns lachend an. Denn es ist naheliegend, dass der Bauer nicht auf dem Jakobsweg unterwegs ist, sondern einfach nur zu seinem Feld will. Jedenfalls lassen wir vom Überholmanöver ab… Sie entfernt sich bald als winziger Punkt in der kastilischen Steppe.

Endlich um kurz nach 11 Uhr in Belorado angekommen, ist unsere Herberge noch geschlossen, so dass wir im Café „Bulevar“ unseren Zuckerspiegel regulieren – Cayetana mit zwei Schoko-Croissants und Kakao mit extra Zucker. Beim ersten Rundgang durch Belorado wundern wir uns über die vielen Hausruinen. Manche bestehen nur noch aus Türsturz und Hausnummer und stehen dort wie Mahnmale der Vergänglichkeit alles menschlichen (Besitz)Strebens. Die mit Schatten spendenden Bäumen und allen Flaggen Europas geschmückte Plaza Mayor von Belorado aber ist schön und voller Leben.

Als wir kurz nach 12 Uhr mittags vor der Pilgerherberge Cuatro Cantones ankommen, hat sich bereits eine Warteschlange gebildet – Zeichen für die Qualität dieser Herberge. Direkt vor uns steht ein braun gebrannter Typ Mitte 20 mit North Face T-Shirt und cooler Sonnenbrille. Cayetana stößt mir prompt ihren Ellbogen in die Rippen. Es ist wohl wieder so weit: sie wird sich ein weiteres Mal für 1,5 Tage verlieben. Er heißt Javier, arbeitet als Gärtner und kommt aus Barcelona. Schon hat Cayetana ihn in ein Gespräch verwickelt. Ich schwöre, mich diesmal nicht einzumischen. Dann stehen wir vor den Herbergseltern, einem sehr sympathischen Geschwisterpaar Mitte 20 (er fungiert als Koch und sie kümmert sich um alles andere). Sie zeigen uns die Betten, die Waschmaschine und den schönen Garten (mit Swimming Pool!). Eine Oase nach dem ersten Marsch durch die kastilische Steppe.

Camno-de-Santiago-2013-3-8834Während ich vor der Waschmaschine unsere Kleidungsstücke sortiere (wir haben fast nichts Sauberes mehr zum Anziehen), ist Cayetana plötzlich verschwunden. Sie ist zwar Kommunistin, aber bei ihr zu Hause in Cádiz muss sie sich um so profane Dinge wie Wäsche waschen keinen Kopf machen, dafür haben ihre Eltern Hausangestellte. Endlich entdecke ich sie im Pool und neben ihr Javier, der seinen muskulösen Oberkörper am Beckenrand auf die Ellbogen stützt. Sie unterhalten sich gerade über sein Tattoo. Er hat auf der rechten Schulter sein Sternzeichen, einen Schützen, eingraviert. Cayetana malt mit ihrem Finger die Umrisse des Tattoos auf seiner Haut nach und sagt in diesem Moment zu ihrem neuen Objekt der Anbetung: „Deine Haut ist so weich wie Olivenöl…“ Das reicht! Ich drehe mich herum, folge dem Motto „Essen ist die Erotik des alten Mannes“ und wende mich dem Mittagmahl zu. Der hausgemachte Zimt-Sahnepudding ist eine kulinarische Streicheleinheit.

Camno-de-Santiago-2013-3-8839Camno-de-Santiago-2013-3-885Mittwoch, 29. August 2013. Am nächsten Tag wartet Cayetana vergeblich auf Javier und fügt sich erstaunlich klaglos in ihre Verlassenheit. Wir vermuten, dass er schon vor 5 Uhr morgens los marschiert ist. Unser Wanderführer warnt vor „strammen Aufstiegen“ in die Gänseberge (Montes de Oca) nach San Juan de Ortega. Unmittelbar hinter Villafranca geht es tatsächlich zuerst sehr steil bergauf, aber schon nach knapp zwei Kilometern betreten wir das „Dach Kastiliens“ und es folgen nur noch sanfte Auf- und Abstiege. „Wie – das war schon alles?“, fragt Cayetana, die ähnlich wie ich eine deutlich schlimmere Klettertortur befürchtet hatte.

Erleichtert marschieren wir durch eine schöne Heidelandschaft mit vereinzelten stattlichen Eichen, die nach ein paar Kilometern abgelöst wird von düsterem Nadelwald, durch den sich einsam der Pfad nach Westen zieht. Schon von weitem springt einem die einzige Ortschaft in dieser Einsamkeit ins Auge: San Juan de Ortega. Die romanisch-gotische Klosterkirche von San Juan de Ortega ist berühmt für ihre schlichte Schönheit und eine ganze Anzahl von Wundern.

Seit Jahrhunderten pilgern nicht nur Jakobspilger, sondern auch viele Frauen der Region hierhin, deren Kinderwunsch unerfüllt blieb. Sogar Königin Isabella die Katholische kniete 1474 hier am Sarkophag des Heiligen, um für die Geburt eines Thronfolgers zu beten, der dann wenig später geboren wurde. Ich weiß nicht, wofür Cayetana hier betet. Jedenfalls amüsiert sie sich über die in der Tat drolligen Bestien eines Seitenaltars , gehörnte Monster, die den Heiligen in seinen Visionen plagen.

Camno-de-Santiago-2013-3-8855Camno-de-Santiago-2013-3-8867Camno-de-Santiago-2013-3-8878Hinter San Juan de Ortega wandern wir noch knapp vier Kilometer über Forstwege durch dichten Nadelwald bis ins Dörfchen Agés, das kaum mehr als 50 Einwohner hat.

Aber eine stattliche Dorfkirche mit einer Mini-Version des üblichen vergoldeten Hochaltars darf auch hier nicht fehlen. Nach dem Besuch der hübschen Kirche meldet sich deutlich der Hunger, der uns in die Dorfkneipe treibt. Jetzt brauchen wir nach diesen Bergetappen ein zünftiges und kalorienreiches Abendmahl. Und dafür soll gesorgt werden, denn Kastilien rund um Burgos ist „Blutwurst-Territorium“. Kurze Zeit später stehen ein riesiger Brotkorb, eine Pfanne mit gebratener Blutwurst und der Rotwein des Hauses vor uns. Nachdem wir mehr als die Hälfte gegessen haben, erinnert sich Cayetana plötzlich daran, dass für diese Blutwurst „vielleicht ein paar kleine süße Ferkel ihr Blut geben mussten“. Und legt das Besteck abrupt zur Seite, um noch eine Flasche Rotwein zu bestellen.

Als wir später Richtung Schlafsaal gehen wollen, werden wir von vier Pilgern eingeladen, die am Tisch neben der Eingangstür sitzen. Es sind zwei junge Frauen und zwei ältere Männer aus Zaragoza. Sie halten uns geradezu fest und bestehen darauf, dass wir uns zu ihnen setzen. Vor ihnen die Reste einer ansehnlichen Schlachtplatte, haben sie noch Blutwurst zum Nachtisch bestellt, die sie mit uns teilen wollen. Der euphorische Glanz in ihren Augen verrät, dass sie auch dem schweren Rotwein der Region schon ordentlich zugesprochen haben und die nächste Flasche wird soeben mit der Pfanne abgestellt. Die Blutwurst-Orgie kann also weiter gehen, der Jakobsweg ist nichts für Asketen. Wie in Platons Symposion sorgt auch hier in diesem kastilischen Bergdorf der Weingenuss bald für philosophische Diskussionen.

Die Frauen aus Zaragoza bringen das Gespräch darauf, dass man auf dem Camino nach Santiago besonders viele Menschen trifft, die eigentlich gläubig sind und Gott nahe sein wollen, sich aber von der (Amts)Kirche ausgegrenzt, dagegen vom Camino magisch angezogen fühlen: Geschiedene, überzeugte Singles, Schwule und Lesben und generell sehr viele Frauen. Da hebt der Mann aus Zaragoza – vielleicht ist er ein Priester, der unerkannt bleiben will? – die linke Hand in einer feierlichen Geste und spricht weise Worte, an die Cayetana und ich uns noch lange erinnern werden: „Dies hier – der Camino – ist tatsächlich ein Weg der Suchenden, nicht ein Weg der Pharisäer, die glauben, schon alles gefunden zu haben und behaupten, die Schlüssel zum Himmel in ihren bürokratischen Händen zu halten. Hier auf unserem Weg hat der Vatikan gottseidank gar nichts zu sagen – auf dem Camino ist die Kirche Gottes unterwegs, und das sind wir alle. Dem Camino folgen alle, die Gott wirklich entdecken wollen…“ – „Olé“, flüstert Cayetana zustimmend und hebt ihr Rotweinglas.

Camno-de-Santiago-2013-3-8886Am nächsten Morgen sind wir etwas verkatert und spüren deutlich die Kälte, die hier auf über tausend Metern Höhe sogar im August vor Sonnenaufgang herrschen kann. Auf nüchternen Magen führt uns ein sehr steiniger und furchtbarer Aufstieg (wir empfinden ihn anstrengender als den in Villafranca) zum Gipfel von Matagrande. Als wir zurück blicken auf die Montes de Oca, geht im Gipfelkreuz von Matagrande die Sonne auf. Auf dem Hügel am Fuß des Kreuzes, gebildet aus tausenden Steinen, die Pilger aus ihrer Heimat mitgebracht haben, lege ich einen Stein aus Köln ab und Cayetana einen Strandkiesel aus Cádiz. Plötzlich fragt meine jugendliche Begleiterin hinein in die Stille des Sonnenaufgangs: „Und – sind jetzt alle Sünden gelöscht?“ Naja, so einfach ist das nicht, will ich eigentlich antworten. Aber als ich das reine Leuchten in ihren Augen sehe, belasse ich sie in diesem Glauben.

Zudem will ich nicht zu dieser frühen Stunde auf nüchternen Magen theologische Diskussionen mit einer 22jährigen führen müssen. Cayetanas billige Digicam, die schon seit Tagen nicht mehr einwandfrei funktioniert, segnet auf diesem heiligen Hügel endgültig das Zeitliche. Das Foto vom Sonnenaufgang im Kreuz ist das letzte, über dem Kreuz kündigt ein rätselhafter Schatten das Ableben ihrer Kamera an. Als sie später den Schatten auf dem Foto entdeckt, wird sie ihn den „Schatten Gottes“ nennen.

Tipps und Links:

Etappe von Grañón nach Belorado: 17 Kilometer
Etappe von Belorado über San Juan de Ortega nach Agés: knapp 29 Kilometer

Unterkunft und Verpflegung:
in Belorado:
Private Pilgerherberge „Cuatro Cantones“ (sehr empfehlenswert!), Calle Hipólito López Bernal, Tel. 947-580591 oder 696-427070; E-Mail: cuatrocantones@hotmail.com
Website: www.alberguecuatrocantones.com

Im Ortszentrum, geführt von bezauberndem Geschwisterpaar, sehr freundlicher Empfang (12.00 – 22.00 Uhr), die Herberge ist eine Oase mit schönem Garten und Swimming Pool, bietet Küche, Waschmaschine und Trockner, Wäscheservice. Übernachtung nur 5 Euro. Bietet auch Frühstück, Mittag- und Abendessen (s.u.).

Verpflegung in Belorado:
Empfehlenswert: Restaurant der Pilgerherberge „Cuatro Cantones“ (auch für Pilger, die woanders übernachten geöffnet, Adresse s.o.): dreigängiges Pilgermenü inkl. Wein 10-12 Euro, sehr gut und großzügig (z.B. Gemüsecremesuppe + Bohneneintopf + hausgemachter Flan-Pudding). Ansonsten gibt es auch rund um die Plaza Mayor viele Restaurants, z.B. „Bulevar“.

Unterkunft in San Juan de Ortega:
Kirchliche Herberge im Kloster San Juan de Ortega (Tel. 947-560438): Einfache und rustikale Traditionsherberge ohne Heizung; Übernachtung: 5 Euro

Unterkunft in Agés:
Gemeinde- Pilgerherberge „La Taberna“, C. del Medio 21, Tel. 947-400697 oder 660-044575. Herberge mit Waschmaschine und Trockner, Internet, Laden und Bar/Restaurant. Übernachtung 8 Euro.

Verpflegung in Agés:
In der Bar der Pilgerherberge und Dorf-Bar „La Taberna“. Das Pilgermenü kostet 10 Euro (nichts für Vegetarier und etwas lieblos zubereitet).

Kirchen:
Kirche Santa María in Belorado:
Renaissancebau am Ortseingang neben der kirchlichen Herberge

Klosterkirche San Juan de Ortega:
Romanisch-gotischer Bau mit schönen Kapitellen und dem Grabmal des Heiligen (gotischer Tempel inmitten der Kirche).

Dorfkirche von Agés:
Mit schöner Glockenwand (Espadaña) und vergoldetem Hochaltar (auch in spanischen Dörfern ein Muss!)