Unterkühlte Tropen

Irgendwann muss man auch der faszinierendsten Stadt entfliehen, um grüne Stille zu erleben und Natur pur einzuatmen. Nachdem ich also eine Woche lang die Monumente und Museen der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá bewundert hatte, aber auch jeden Tag in den Großstadtdschungel dieser 8-Millionen-Metropole mit Lärm und Verkehrschaos eintauchen musste, schlug mir meine ortsansässige Freundin Angélica am Morgen meines Abflugtages vor, doch noch einen kurzen Ausflug in die Berge zu unternehmen. Eine tolle Idee, doch ich zögerte einen Moment. Schließlich sind wir in Kolumbien und da hört die Sicherheit – vor allem für jeden, der ausländisch aussieht – oft schon dicht hinter den Stadtgrenzen von Bogotá auf und niemand weiß genau, welche Guerillabewegung oder Paramilitärs sich gerade in welcher Bergkette verschanzt haben. Aber dann siegt doch die Neugier und wir fahren in einem klapprigen Bus langsam die Serpentinenstraße hoch, die über steile Berghänge im Nordosten aus der Stadt herausführt. Man nennt sie Carretera de la Muerte (Straße des Todes) – kein guter Beginn, wie ich finde.

Denn sie besteht fast ausschließlich aus Haarnadelkurven, die auch für Einheimische unberechenbar sind. Besonders nachts wird die Straße zur Todesfalle, weil sich ausgerechnet an diesen Berghängen, gesegnet mit einer phantastischen Aussicht auf das Lichtermeer von Bogotá, die angesagtesten Diskotheken und Restaurants der Region befinden.

In diesen Tanztempeln über den Wolken werden natürlich reichlich Cocktails aller Art konsumiert. Daher stürzen jedes Wochenende Dutzende von Autos mit meist jugendlichen Insassen von dieser schlecht beleuchteten Straße Hunderte von Metern in den Abgrund. Zahlreiche Kreuze am Straßenrand erinnern an diese traurige Tatsache. Trotzdem ist dies eine der schönsten Straßen ganz Amerikas: links in der Tiefe erstrecken sich bis zum Horizont die Wolkenkratzer und Avenidas der Megastadt Bogotá, rechts blickt man auf die Steilhänge und emporragenden Bergwälder. Der kleine, Jahrzehnte alte Bus kriecht mit knatterndem Auspuff höher, vorbei an spektakulären Aussichtspunkten. Endlich ist der höchste Punkt auf etwa dreieinhalbtausend Metern erreicht, dann geht es leicht bergab. Die Gebirgslandschaft in tausendfachen Grüntönen gleitet vorbei – oder besser gesagt, sie hopst vorbei, denn der uralte Ford-Bus holpert und vibriert bedenklich.

Wir fahren durch eine fruchtbare Hochebene, die von vielen kleinen bewaldeten Gebirgszügen durchschnitten wird. Es ist erstaunlich, dass man schon nach einer halben Stunde Fahrt nichts mehr sieht von dem Moloch Bogotá. Kaum noch Häuser links und rechts, ein paar Meter neben der Straße beginnt die Einsamkeit der Anden. Mit den typischen Kolumbien-Klischees – schokoladenfarbige Schönheitsköniginnen und – könige, die an palmengesäumten Stränden Salsa und Cumbia tanzen – haben diese Bilder nichts gemein. Und doch zeigen sie das eigentliche Kolumbien und das besteht im Herzen aus einer der schönsten und grünsten Berglandschaften der Welt. Zusammen mit Costa Rica haben die kolumbianischen Anden auch die weltweit artenreichste Vegetation vorzuweisen. Einziger Nachteil: Tropische Brisen von 30° sucht man hier vergeblich, meist schwanken die Temperaturen auf dieser Höhe von 3000 Metern zwischen 15° und 20°, nachts und an bewölkten Tagen können sie auch unter 10° fallen.

Nach einer weiteren halben Stunde Fahrt erreichen wir unser Ziel, das Bergdorf La Calera. Es liegt in einem weiten Tal, eingekesselt von aufragenden Bergrücken. Den höchsten dieser Gipfel wollen wir besteigen. Doch zunächst muss ein Weg dorthin gefunden werden. Wir überqueren die bescheidene, aber schöne Plaza Mayor, die von einer ockerfarbenen Kirche und einer Parkanlage dominiert wird.Wir fragen ein altes Ehepaar, das über den sonntäglichen Platz schlendert, wie man zum Gipfel gelangen könnte. Sie lassen sich kopfschüttelnd die unglaubliche Frage zweimal wiederholen, dann blicken sie uns an wie Außerirdische. Auf diesen Berg wollten wir, einfach nur so und freiwillig!? Auf so einen Gedanken könnten nur Ausländer kommen, sagen sie, sie selbst wohnten jetzt schon 70 Jahre hier und seien noch nie da oben gewesen. Aber nun gut – irgendwo da vorne müsse es wohl hoch gehen. Nach dieser Auskunft, die an Präzision nichts zu wünschen übrig lässt, marschieren wir ein paar Kilometer durch den Klee, vorbei an Holsteiner Kühen, die demonstrativ friedlich ihrer Nahrungsaufnahme auf den Bergwiesen nachgehen – als ob ihnen noch nie ein Guerillero begegnet sei.

Wolkenschatten gleiten über die zerklüfteten Bergwälder, immer wieder bricht die Sonne kurz durch und lässt das Grün aufleuchten. Kurz hinter den letzten Kühen hören Wiese und Trampelpfad auf und es gibt keinen sichtbaren Weg mehr – schon gar nicht Richtung Gipfel. Aus Protest setzt sich Angélica einfach in den Klee und wartet. Eine Bäuerin, die an uns vorbei geht, fragen wir nach einem Pfad, der hin zur Bergspitze führt. Die gleiche Reaktion wie eine Stunde vorher. Ungläubiges Staunen und die Frage an Angélica, ob wir etwa Kühe dort oben weiden hätten. Nein, entgegnet meine Begleiterin knapp. Danach muss sie lachen: „Sehen wir etwa so aus, als ob wir kolumbianische Almkühe heim ins Tal treiben wollen“?
Wir gehen langsam am Waldrand entlang, aber es gibt zuviel Dickicht, kein Durchkommen. Außerdem sitzt der Respekt vor den möglichen Geheimnissen dieses dunklen Waldes tief. Wir sind in Kolumbien und die tausend Fronten verändern sich täglich. Wer weiß schon, ob sich nur ein paar Kilometer von den friedlich grasenden Kühen hinter diesem grünen Vorhang nicht doch sehr unfriedliche Geschöpfe verborgen halten?
Wir beschließen also, den Gipfel warten zu lassen und begnügen uns mit der Aussicht auf die tief unter uns liegende Talsperre, die in den 90er Jahren angelegt wurde, um den Durst der nahen Hauptstadt zu stillen.
Ein meditativer Rundblick über die schweigende Bergwelt zeigt uns eine Landschaft, die zu den schönsten der Welt gehört. Welch einen Touristenboom könnte dieses Land erleben, das von Stränden an zwei Weltmeeren über barocke Museumsstädte und grüne Naturschutzparks bis hin zu 6000 Meter hohen Bergen und Tiefland-Dschungel alles zu bieten hat. Wären nur die Schlagzeilen nicht beherrscht von dem scheinbar ausweglosen Image der Gewalt, die wie ein düsteres Naturgesetz über diesem verhinderten Paradies schwebt.

Plötzlich drängt Angélica, von diesem einsamen Platz möglichst schnell ins Dorf zurück zu kehren. Sie begründet ihre Unruhe mit einem sehr ungemütlichen Gedanken: Was wäre, wenn irgendeiner von denen, die uns begegnet sind, der nächstpostierten Guerilla-Einheit mitgeteilt hat, dass hier ein Ausländer als lukratives Lösegeldopfer einfach so über die Wiesen läuft? Wir gehen also zurück über die Landstraße, da nähert sich von hinten ein grauer Ford, der auffällig langsam fährt und neben uns beinahe zum Stehen kommt. Ein paar Momente lang schlägt mein Herz schneller und ich glaube: jetzt geht die Tür auf, sie zerren mich in den Wagen, das wars dann und die Lösegeldverhandlungen nehmen ihren Lauf.

Aber die Insassen werfen nur ein paar neugierige Blicke auf uns und fahren dann grinsend weiter. Angélica war wohl der gleiche, angstvolle Gedanke gekommen, auch sie wirkt jetzt erleichtert.

Zurück an der Plaza Mayor, gehen wir ins einzige Restaurant, um auf den Schreck ein paar Bier zu trinken. Die dazu bestellten gegrillten Koteletts sind so riesig, dass keiner von uns ein Ganzes schafft. Wir genießen noch etwas die Aussicht vom Balkon auf die Dorfkirche und die grünen Hügel ringsum, bevor wir die Rückfahrt nach Bogotá antreten.Wie friedlich diese Gegend doch wirkt, wenn man nicht von den täglichen Schlagzeilen eines Schlechteren belehrt würde. Denn fast hätten wir es in diesem stillen Gebirgstal vergessen: Wir sind in Kolumbien.