Stuart Archer Cohen – Der siebzehnte Engel (12/2013)

Mit einem Kopfnicken deutete er auf einen Mann um die sechzig, dessen kahlrasierter Schädel und die pechschwarzen Augenbraun die bedrohliche Wirkung noch verstärkten, die von seinen Zahnlücken und der funkelnden goldenen Halskette ausgingen. Fortunado beugte sich noch etwas näher an Athena Fowler. „Der Mann da drüben, Oswaldo. Der hat sein ganzes Leben Frauen für sich anschaffen lassen. Außerdem ist er ein berühmter Messerstecher. Jetzt wird er langsam alt, so wie wir alle. Der andere, der bei ihm sitzt ist ein puntero aus dem Barrio. Ein Kokaindealer. Und das alles steckt in der Musik. Es gibt Tangos über Zuhälter, Kokain. Es gibt Tangos über Männer wie diese.“ Er deutete auf einen anderen Tisch. „Die nur traurig dasitzen, rauchen und trinken. Es gibt Tangos über Lokale wie die Los 17 Angeles de Piedra.“

Der siebzehnte Engel
Autor: Stuart Archer Cohen
417 Seiten

Miguel Fortunado ist Liebhaber des klassischen Tangos, Tänzer und Comisario der Provinzpolizei in Buenos Aires. Der Tod seiner Frau liegt nur wenige Monate zurück. Sie war ihm Tanzpartnerin der Liebe und des Lebens und moralisches Korrektiv im Sumpf der exekutiven Korruption, die vom Straßenpolizisten bis in die höchsten Etagen reicht. Letztere nicht selten mit folternden und tötenden Schergen der Militärjunta besetzt, unvorstellbar skrupellosen Subjekten vergangener Systeme.

Der Roman-Auftakt ist brillant: Fortunado erschießt den semi-erfolgreichen US-Autor Waterbury, der seine Recherche in Buenos Aires als letzte Chance sieht, seinen einstigen schriftstellerischen Ruhm wieder zu erlangen. Als die US-Amerikanerin Athena Fowler zur Aufklärung des Mordes an Waterbury nach Argentinien entsandt wird, muss ihr Fortunado zur Seite stehen. Schließlich hat er den Tod des Schriftstellers zu verantworten und trägt nun dafür Sorge, dass sein Kommissariat unbefleckt bleibt – sein Vorgesetzter, er selbst und seine korrupten Kollegen weiterhin ungestört Reichtümer erzwingen, erpressen und rauben können. Zur Aufklärung seines eigenhändig verübten Mordes präsentiert er Doctora Fowler immer fadenscheinigere Theorien, Verdächtige und Geständige. Der Tango Fortunados und Fowlers kann beginnen…

Luis und Yolanda tanzen, das Gesicht abgewandt, den Rücken durchgedrückt, Vorwärtsschritt, Drehung, Rückwärtsschritt. Luis führte souverän, ohne einen falschen Schritt schwenkte er seine Partnerin hin und her. Sie waren ein leichtfüßiges Paar, die Bewegungen fließend, eine perfekte Einheit. „Sehen Sie? Die Schritte der Frau und die des Mannes sind völlig anders, aber sie passen perfekt zusammen. Er geht vor, sie geht zurück. Sie will ausbrechen, er schneidet ihr den Weg ab. Beim Tango herrscht der Mann. Er führt, aber er lässt die Frau ganz Frau sein.“

Athena Fowler bricht aus. Sie verlässt sich nicht allein auf die Hilfe des Kommissars, sondern kontaktiert die edlen und weniger edlen Bekämpfer des korrupten Systems. Allen voran den von der Polizei verhassten, weil alle Drohungen ignorierenden, Journalisten Ricardo Berenski. Dessen Nachforschungen bringen die Verwicklungen Waterburys mit zwei auf höchster politischer und wirtschaftlicher Ebene agierenden Gegenspielern ans Licht: Carlo Pelegrini und die Grupo Capital AmiBank. Die Todesursache Waterburys laut Polizeibericht – umgekommen bei einem Drogendeal – wird immer unhaltbarer. Doch das persönliche Schicksal Waterburys verliert vorübergehend an Interesse in Anbetracht der auf höchstem kriminellen Niveau ausgefochtenen Duelle um den vom Liberalismus vorangetriebenen Ausverkauf öffentlicher Eigentümer wie der argentinischen Post.

Fortunado bringt Fowler wieder auf den von ihm beherrschten Kurs. In tänzerischer Gewandtheit geleitet er sie durch die, die offizielle Version des Ablebens des Schriftsteller stützenden, Konstrukte. Die beiden verschmelzen zu einer ermittelnden Einheit. Dann, als die Musik zu verstummen droht und der Tanz zu Ende scheint, stören unerwartete Eindringlinge die Harmonie und allmählich dreht sich das Kräfteverhältnis. Sie geht vor, er er geht zurück. Aus dem schwarzen Tango, der von den finstersten argentinischen Mächten erzählt, wird allmählich ein weißer puristischer Paartanz. Das Böse zeigt sich vergänglich, verlorene Seelen werden zurückgeführt auf den Pfad der Tugend.

Fazit: Die Geschichte ist Tango. Sie ist richtig gut, bisweilen spannend. Die Rahmenhandlung – Polizist jagt sich selbst – ist ein Knaller. Aber der Autor hat das Pech, nicht aus dem Land des Tangos zu stammen, und so fehlt dem Roman zur Vollkommenheit die Poesie.

Die Sprache ist kein Tango. Und Geschichte und Sprache stellen kein harmonisches Tanzpaar, dessen Betrachtung zu tiefmelancholischen Freudentränen zu rühren vermag. Sehr schade. Lesenswert: ja. Ein Muss: nein.

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