Selling El Diego

Buenos Aires, Stadtteil Recoleta. Es war Anfang Januar dieses Jahres, dass ich ihn plötzlich sah. Ich erkannte sein Tränen überströmtes Gesicht sofort, seine Augen trafen meine. „Sonderangebot – 9,90 Pesos“ war halb über seine Stirn geklebt, und so griff ich zu. „Yo soy El Diego“ prangte in weißen Lettern auf dem Buch. Nicht mal drei Euro, und das für die Lebensgeschichte eines Nationalhelden. Eines Fußballgottes. Der Hand Gottes. Von Gott geliebt. „Das sind die letzten Exemplare“, raunt der Buchhändler mir zu, „und es wird wohl keine neue Auflage geben.“

Vier Monate später. Ich schlage die Zeitung auf. Ein Bild von Diego. Er spaziert barfuss durch den Garten eines Freundes, 50 Kilometer außerhalb von Buenos Aires. Er ist bis zur Hüfte in ein Betttuch gehüllt. Zumindest vermute ich seine Hüften in etwa dort. Ansonsten scheint er nackt zu sein. Er ist kugelrund, das Gesicht unglaublich aufgeschwemmt. Er erinnert an eine Mischung aus Che Guevara, Master Yoda und einem Sumoringer.

Ein Freund aus Buenos Aires ruft mich an. Er hat für einen italienischen Fernsehsender ein Interview mit Maradona vereinbart. Das war ein Tag vor Diegos Zusammenbruch Mitte April in „La Bombonera“, dem Stadion von Boca Juniors. Jetzt ist Maradona, nach zwölf Tagen zwischen Leben und Tod, wieder aus der Klinik raus, auf eigenen Wunsch und gegen den Rat der Ärzte. Sein Marktwert ist dadurch gestiegen. Zumindest glaubt Maradona dies. Er verlange mehr Geld, als eigentlich vereinbart gewesen sei, berichtet der Freund aus Argentinien, und ob ich jemanden kennen würde, der für ein Interview mit Diego eine fünfstellige Dollarsumme auf den Tisch legen würde, um seine Gage zu komplettieren. Ein brasilianischer Fernsehsender? Vielleicht die Engländer? Oder die Deutschen? Bestimmt ist die Welt voll von Journalisten und Fernsehsendern, die für Maradonas Lebens- und Leidensgeschichte bereitwillig die Brieftasche öffnen. Glaube ich. Und so beginne ich zu telefonieren.

Zuerst versuche ich es mit den Korrespondenten des deutschen Fernsehens in Brasilien. Es ist Wochenende, und das ist für meine Verkaufsbemühungen nicht gerade hilfreich. Einige der Korrespondenten nutzen das schöne Wetter in Rio, um ein paar Runden Golf zu spielen. Andere sind gerade nach Athen unterwegs, um Vorberichte für die Olympischen Spiele zu produzieren. Und die, die ich schließlich und endlich an den Hörer bekomme, haben leider keinerlei Entscheidungsgewalt. „Da müssen wir erst mal die Verantwortlichen in Deutschland fragen. Und die arbeiten nicht am Wochenende, sondern erst wieder am Montag. Warum müssen Sie aber auch so eine Geschichte ausgerechnet am Wochenende verkaufen? Unter der Woche wäre das ja viel einfacher….“ Besten Dank!

Dafür zeigt das englische Fernsehen eine ganz ausgezeichnete Arbeitsethik und ist auch am Wochenende erreichbar. Dafür haben sie einen Grundsatz, der einem erfolgreichen Geschäftsabschluss eindeutig im Wege steht. „Wir bezahlen grundsätzlich nicht für Interviews. Aber geben Sie mir doch Ihre Nummer. Ich höre mich mal hier um, und rufe Sie dann gegebenenfalls zurück“, sagt die Stimme, dann legt er auf. Und ruft nie wieder an. Was soll man aber auch von einem Engländer erwarten; nach jenem Tor von Diego bei der WM 1986 in Mexiko… dem mit der Hand.

Damals im Januar in Buenos Aires las ich Diegos Buch in zwei Tagen. Tief beeindruckt von seiner Fähigkeit, in nahezu jeder Situation in Tränen auszubrechen, machte ich mich auf, das Stadion von Boca Juniors zu besichtigen, in dem er seine Karriere begann. Und beendete. Und indem er, einige Wochen nach meinem Besuch, beinahe auch gestorben wäre. So wie es sich für einen wirklich dem Verein verbundenen Fan gehört.

In das in den Katakomben errichtete Maradona-Museum bin ich damals nicht gegangen. Aber ich habe in den verwinkelten Gängen unter dem Stadion die auf die Wände geklebten Zeitungsausschnitte bewundert. Und ein Foto von den Pissoirs und der Umkleidekabine der Boca Juniors geschossen.

Hier also hat sich Maradona umgezogen, bevor er das Spielfeld betrat und seine genialen Pässe schlug. Hier hat er sich den Heldenschweiß abgeduscht, der beste Fußballer aller Zeiten. Hier in Brasilien hört man diese Bezeichnung im Zusammenhang mit Maradona nicht gerne. Ein schlechtes Beispiel für die Jugend sei Maradona, tönt ein Sportmoderator im brasilianischen Fernsehen. Schwach und hilflos, seiner Drogensucht ausgeliefert und unfähig, den Alltag zu bewältigen.

Am anderen Ende der Leitung vernehme ich die Stimme eines mir seit der Kindheit vertrauten Sportreporters. Obwohl ich längst weiß, mit wem ich spreche, bitte ich ihn noch einmal, seinen Namen zu wiederholen. Verhandlungstaktik. „Was hat Maradona denn Neues zu erzählen?“, fragt mich die bekannte Stimme. Ich setze schon an, um ihm die lange Liste voll dramatischer Ereignisse zu schildern, die das Leben von El Diego in letzter Zeit so spannend gemacht haben, da fügt die bekannte Stimme hinzu „Außer Drogen- und Liebesgeschichten?“. „Nun…“ Jetzt heißt es Argumente auf den Tisch. Doch ich komme nicht mehr dazu. Die Stimme versenkt mich vorher. „Hören Sie, wir sind nicht bereit, Herrn Maradona seine Drogen zu finanzieren.“

Spätestens seit seiner Zeit in Neapel lebte El Diego in ständiger Begleitung von Kokain. So auch bei der WM 1994, von der man ihn wegen angeblichem Doping suspendierte. Dabei hinderten ihn die Drogen wohl mehr als dass sie ihm Wettbewerbsvorteile verschafft hätten. Vor einiger Zeit hat ihn seine Frau verlassen, wohl wegen der Drogen.

Und aus dem anfangs als Entziehungskur verstandenen Aufenthalt auf Kuba ist eine ständige Flucht geworden. In Buenos Aires, so Maradona, reden alle nur schlecht über ihn. Angeblich soll er eine Kubanerin geschwängert haben. Seine neue Freundin. Manche sagen, sie sei noch minderjährig. Er bleibt nur eine Woche in Buenos Aires, dann fliege er nach Kuba zurück, drängt der Freund aus Buenos Aires zur Eile. Und ich telefoniere weiter.

Derweil spielt Diego Golf, anstatt das Krankenbett zu hüten. Ob mit den deutschen Korrespondenten oder nicht kann ich allerdings nicht genau sagen. Einem über dem privaten Golfplatz kreisenden Hubschrauber soll er sein nacktes Hinterteil entgegen gestreckt haben. Und auch das von einer Blondine im Auftrag des argentinischen Senders Telefe einen Tag nach Maradonas Flucht aus dem Krankenhaus aufgenommene Interview war für meine Verkaufsbemühungen eher kontraproduktiv. „Diego ist ein Prolet, der nur Müll redet“, urteilt ein deutscher Journalist am Telefon. „Dafür wird mein Sender kein Geld ausgeben.“

Mittlerweile kenne ich das Nachtprogramm brasilianischer Fernsehsender in- und auswendig. Fünf Stunden Zeitunterschied gegenüber Deutschland lassen mich ab 3.00 Uhr morgens am Telefon hängen, während ich versuche, die sogenannten Entscheidungsträger der deutschen Fernsehlandschaft an die Strippe zu bekommen. „Rufen Sie doch bitte in einer halben Stunde noch einmal an, dann dürfte der Herr XY aus seiner Sitzung zurück sein“, versichert mir eine äußerst freundliche Stimme, nachdem ich der Sekretärin zehn Minuten lang zu erklären versucht habe, warum ein Interview mit einem ehemaligen argentinischen Fußballgott immer noch in die deutsche Frühlings-Primetime hineinpasst. Eine Folge von „Sex and the City“ später lasse ich es wieder bei ihr klingeln. „Nein, ich habe nicht mit Ihnen gesprochen“, versichert mir die freundliche Stimme, „das muss dann wohl meine Kollegin gewesen sein. Was wünschen Sie denn von Herrn XY?“

Ich weiß nicht, warum manche Medienmanager zwei Sekretärinnen haben müssen, aber ich weiß jetzt, dass die äußerst knappe Sendezeit mit Vorberichten über die Olympischen Spiele, die Fußball-Europameisterschaft und das Bundesliga-Finale bereits überfüllt ist. Maradona, wäre er auch nur halb so rund, würde da unter gar keinen Umständen mehr hineinpassen.

Ich muss zudem erfahren, dass ich nicht der einzige bin, der ein Interview mit El Diego anzubieten hat. Dafür aber der billigste. Immer wieder werden am anderen Ende der Telefonleitung astronomische Summen genannt, für die ein Gespräch mit der „Hand Gottes“ angeboten wurde. Doch die Fernsehanstalten wollen nicht, da ihre Planung in eine andere Richtung geht. „Wir haben schon einen Nachruf auf Maradona produziert. In der letzten Woche konnte man ja nicht wissen, was mit ihm passiert. Der Beitrag liegt jetzt bei uns in der Schublade. Fürs nächste Mal…“, erzählt mir ein deutscher Fernsehjournalist.

Die Zeit läuft davon. Im letzten Moment scheint ein brasilianischer Fernsehsender anzubeißen. „Schicken Sie mir Ihr Angebot per Mail, ich rede jetzt sofort mit meinem Chef und melde mich dann… Bleiben Sie in der Nähe des Telefons“, bittet mich der Redakteur mit hektischen Worten. In den nächsten 24 Stunden warte ich vergeblich auf seinen Anruf, und sein Telefon klingelt einsam vor sich hin, ohne dass sich jemand erbarmen würde, abzuheben. Als ich dann schließlich doch noch einen seiner Redaktionskollegen an die Leitung bekomme, kann der mir auch nur ein „Ich verstehe das auch nicht, er ist hier den ganzen Tag nicht aufgetaucht.“ übermitteln.

Mein Freund aus Buenos Aires ruft an. Der italienische Fernsehsender hat die Nase voll und verzichtet auf das Interview. Damit ist die Sache gestorben. „Er wird morgen nach Kuba zurückfliegen, und das war’s.“ Am nächsten Morgen melden die Nachrichten, dass Maradona wieder im Krankenhaus ist. Angeblich hat er sich an Sandwichs und Barbecue überfressen. Im Krankenhaus randaliert Maradona, muss an sein Bett gefesselt werden. Er leide unter dem Drogenentzug, so die Ärzte, und sie raten Maradonas Familie, ihn in eine Spezialklinik einliefern zu lassen. Fünf Kliniken in Argentinien weigern sich, den berühmt-berüchtigten Ex-Fußballgott aufzunehmen. Zu sehr fürchten sie Diegos Launen und den Rummel um seine Person.

Schließlich erklärt sich eine Nervenklinik bereit, ihm zu helfen. Mindestens sechs Monate müsse er dort bleiben und eine strenge Diät einhalten. Es sei seine letzte Chance, so die Ärzte. Wie seine Chancen stehen, kann niemand sagen. „Maradona macht, was er will, und lässt sich von niemandem bevormunden“, erklärt Diegos Leibarzt frustriert. Gleichzeitig halten sich hartnäckig Gerüchte, dass Maradona nach Kuba zurück kehren will, um den Kokainentzug dort durchzuführen. Ob das letztlich ratsam ist – immerhin soll die Klinik Medienberichten zufolge in einem Ort mit dem vielsagenden Namen „El Cocal“ liegen.

Für mich bleibt nur die Hoffnung, dass der Postbote die Telefonrechnung verliert oder eine höhere Gewalt die unter meiner Nummer aufgelisteten Ferngespräche im Zentralcomputer der Telefónica löscht. Ich erinnere mich an die Worte jenes Buchhändlers in Buenos Aires, und nun erscheinen sie mir wie eine versteckte Warnung. „Das sind die letzten Exemplare, und es wird wohl keine neue Auflage geben.“

Fotos: Thomas Milz