Jazziges aus Chile (09/2005)

Schon 1924, mit der Band von Pablo Garrido, beginnt die Geschichte des Jazz in Chile. Und trotzdem blieb chilenischer Jazz eine periphere Erscheinung, innerhalb wie außerhalb der Landesgrenzen. Die Jazz-Szene ist klein, fast nur auf den Großraum Santiago und zwei, drei weitere Städte konzentriert, Musikindustrie und Publikum nehmen kaum Notiz von den heimischen Jazzern. Und die internationale Jazzgemeinde kennt höchstens die Sängerin Claudia Acuña. Mit den folgenden vier CDs hat das US-Label „Petroglyph“ einen ersten lobenswerten Schritt getan dies zu ändern, auch wenn – das sei hier vorweggenommen – im Lande originellerer Jazz existiert, die Band „La Marraqueta“ zum Beispiel. Sollten die Musiker des Labels wie angekündigt im Jahr 2006 in Europa Konzerte geben, sind sie auf jeden Fall einen Besuch wert.

Bis heute wird die Szene in Chile sehr stark von der Fusion-Welle der 70er Jahre geprägt, vor allem aus politischen Gründen: „Meine Jazzgeschichte und die vieler anderer beginnt in den 70er Jahren. Zu dieser Zeit waren ausländische Platten superbillig und so konnte ich alle Weather Report-Platten kaufen“, erklärt Tomás Miranda, Jazzmoderator bei Radio Futuro. Diktator Pinochet förderte die Einfuhr angloamerikanischer (Instrumental-) Musik, um den Einfluss der heimischen Folklore zurückzudrängen. Gute Beispiele sind die Alben des Gitarristen Antonio Restucci und des Bassisten Marcelo Adeo, der vor seiner Solokarriere schon mit den zwei Formationen „Al Sur“ und „Trifusión“ die Fusion-Szene bereicherte.

Marcelo Adeo
Polosur Celeste
Petroglyph Records 00312

„File under: ethno jazz“, steht auf dem Waschzettel zu Marcelo Adeos CD „Polosur Celeste“. Das ist völliger Quatsch, es sei denn das zweimalige Auftauchen einer quena (Andenflöte) oder das Herkunftsland „Chile“ reichen für US-Amerikaner schon aus, um Musik als „ethno“ einzuordnen. Adeo, der auch Keyboard und Gitarre spielt, präsentiert Fusion der „smoothen“ Art, mit Anlehnung an Jan Garbarek oder Dave Grusin. Das passt gut zu den realen und imaginären Landschaften, die er beim Komponieren vor Augen hatte. Windgeräusche erinnern an Patagonien, die Titel seiner Kompositionen verweisen auf den Südpol, die Magellanstraße, den Himmel oder das Meer. Sehr ruhige Klänge, ideal zur Untermalung von Filmen über die Osterinseln.

 

Francesca Ancarola ist nicht den Klängen der Fusion-Welle erlegen. Die klassisch ausgebildete Sängerin betätigte sich zuvor auf vielen musikalischen Feldern: so gewann sie 1993 auf dem renommierten Festival für elektroakustische Musik in Bourges, Frankreich, einen Preis mit ihrer Komposition „A“ und sang in einer Rockband. Sie spielt Gitarre, Cello und Klavier und schreibt ihre Stücke selbst: „Ich komme aus einer musikalischen Familie, zuhause hörte ich Rockmusik, Piazzolla, Bach und vieles andere. Darum kann man mich auch nicht in eine Schublade einordnen“, erzählte sie mir 2003 in Santiago de Chile. Ihre wunderbare Stimme braucht einen Vergleich mit den momentan angesagten europäischen Sängerinnen (Viktoria Tolstoy etc.) nicht zu scheuen (Anspieltipp: „Moonlight“).

Francesca Ancarola
Sons of the same sun
Petroglyph Records 00112

Der Titel ihres Albums „Sons of the same sun“ soll auf die Verbundenheit der Menschen (in Nord- und Südamerika?) hindeuten, das künstlerische Konzept des dauernden Sprachwechsels zwischen Spanisch und Englisch bei der Hälfte der Titel geht meiner Meinung nach nicht auf: als Effekt kann das gut funktionieren, aber dauerhaft wirkt dieser Kunstgriff lästig, vor allem in Zeilen wie „My brother canta“. Da sie außerdem keinem „spanglishen“ Sprachgebiet entstammt (z.B. Kalifornien) fehlt mir auch der tiefere Sinn hinter dieser Idee. Die einsprachige spanische Version von „Scarebadthings“ hatte durchaus Ohrwurmcharakter, hier verliert sie nur durch die Zweisprachigkeit, ebenso wie die wunderschöne Ballade „Hotel room“.

 

Einige ihrer Begleitmusiker treffen wir auf den folgenden zwei Alben wieder: Das Album von Emilio García ist der Ausreißer unter den „Petroglyph“-CDs.

Emilio García
Ultrablues
Petroglyph Records 00412

Hier gibt es wenige ruhige Töne und kaum Fusion-Einfluss, sondern treibenden Bluesrock mit E- und akustischer Gitarre. In Chile wurde „Ultrablues“ 2003 mit dem „Altazor Award“ ausgezeichnet, eine seltene Anerkennung für diese Musik. Meine Favoriten: das jazzigste Stück auf der CD ,“Songo“, und „Fanqui“, das wirklich funky daherkommt. Die Qualitäten des auch in den USA als Begleitmusiker begehrten Gitarristen treten natürlich besonders in den beiden Solotiteln „Ablusiones“ und „Reblues“ hervor. Als „Zugabe“ gibt es noch ein flamenco-angehauchtes Stück als Hommage an Paco de Lucia („Playa del Carmen“).

 

Nach seinen Einflüssen befragt, fällt der Name de Lucia auch beim Gitarristen Antonio Restucci. Auf seinem Album „Crisol“ (Schmelztiegel) fließen denn auch häufig Klänge spanischer Musik und Jazz geschmeidig zusammen („Estrellas de arena“; „Gypsy sunrise“). Nicht zuletzt, weil er momentan in Barcelona lebt und oft mit der Rumba-Flamenco-Mestizo-Gruppe „Ojos de Brujo“ auftritt.

Antonio Restucci
Crisol
Petroglyph Records 00212

Ein Großteil der Titel ist auch dort produziert worden und viele spanische Musiker kamen ins Studio, u.a. der Jazzsaxophonist Jorge Pardo, der in „Jambull“ meisterhaft Flöte spielt, und Bassist Carles Benavent, beide ehemalige Wegbegleiter von Paco de Lucia. Restucci öffnet seinen Schmelztiegel aber auch Klängen aus anderen Weltregionen: Tablas und sein meisterhaftes Mandolinenspiel wecken im Titelstück „Crisol“ Erinnerungen an den Orient und Indien. Die meisten Titel sind ruhig und fließend und erinnern an die Musik von Renaud García-Fons. Nur in „Evocación“ mutiert die Mandoline zum rasenden Jazzinstrument. „File under: ethno jazz“ hat hier seine Berechtigung.

Cover: Petroglyph Records