Im Kaffeehaus in Buenos Aires

Über eine Stadt und die Eigenheiten ihrer Bewohner erfährt man an den verschiedensten Ecken des täglichen Lebens: in der U-Bahn, auf Konzerten oder beim Einkaufen um die Ecke. Dort, wo es eben menschelt. Kein Platz jedoch eignet sich derart vortrefflich wie das Straßencafé. Ich habe meines recht schnell gefunden. Das ist auch keine große Kunst, denn der Mensch ist bisweilen doch recht träge und bequem. Mein Café liegt gerade mal drei vier Blocks von meinem Apartment in der Avenida Belgrano entfernt.

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Das Leben auf der Belgrano ist so eine Sache. Ganz offiziell gehört die Straße fast gänzlich zum Stadtteil Montserrat und in diesem Stadtteil ist jede Menge los. Auf der mächtigen Avenida Entre Rios und auch auf der etwas weiter entfernten Avenida Jujuy steht selten ein Auto still, die Menschen gehen einkaufen und am Wochenende schreien die Kinder, weil sie im nächsten Pancho-Laden die argentinische Variante des Hot-Dogs haben wollen. Vielleicht aber auch nur ein Eis oder einen neuen Fußball. Mein Apartment liegt allerdings auf der anderen Seite, nur zwei Blocks von der Avenida 9 de Julio entfernt. Das ist die breiteste Straße der Stadt und ich wundere mich immer wieder, dass da so wenig passiert. Auf jeder Seite gleich sieben Spuren, da ist man schon froh, wenn man als Fußgänger bei einer Grünphase 50 Prozent der Strecke hinter sich bringt. Doch hat man es erst einmal über die Straße geschafft, ist man im Barrio San Telmo, dem altehrwürdigen Tango- und Künstlerviertel. Das steht zwar als Ausflugstipp auch in jedem Reiseführer, jedoch gibt es unzählige Ecken, wo man den Tango in seiner ursprünglichsten Art erfühlen und genießen kann.

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Mein Café jedoch liegt im Herzen Montserrats, am Plaza de Congreso. Um ganz genau zu sein: Ecke Hipólito Yrigoyen und Luis Sáenz Peña, direkt gegenüber der kleinen Plaza Mariano Moreno, wo die Handwerker in der Gegend gern ein Päuschen machen und ihren Mate trinken. Im Herbst kann man seinen Kaffee sogar mit Blick auf das Kongressgebäude schlürfen. Da sitze ich also. Fast jeden Tag. Zum Frühstück. Vor mir liegt dann die Zeitung und der Kellner bringt, ohne dass ich auch nur etwas sagen muss, meinen Milchkaffee und drei Medialunas de manteca. Das berühmte argentinische Gepäck gibt‘s zwar auch in der „Fett-Variante“, aber die Butterhörnchen hier sind einfach unschlagbar gut. Drei Wochen hat es gedauert bis ich gewissermaßen als Porteño durchging: Wahrscheinlich liegt‘s aber auch an meiner wenig abwechslungsreichen Frühstückskost und, egal wie blöd ein Mensch sein kann, wenn ein Kerl täglich zur etwa selben Zeit kommt und immer das gleiche bestellt, irgendwann hat man es wohl geschnallt, dass er genau deshalb jeden Morgen hierher kommt. Ich jedenfalls schätze solche Konstanten außerordentlich.

congresoEin kleiner Small-Talk findet erst statt, wenn meine Bestellung da ist. Normalerweise habe ich dann auch schon die Schlagzeilen abgearbeitet und kann mich dem Sportteil widmen. Oder gucken.

Die feine Witwe im roten Mantel ist heute da. Klar, es ist ja Montag. Außer heute kommt sie auch am Mittwoch, Donnerstag und Freitag ins Café. Dienstags muss sie wohl bei ihrer Tochter auf das Enkelkind aufpassen und am Wochenende ist die Familie in der Provinz dran. Der dicke Geschäftsmann José mit seinem Vollbart ist ebenfalls hier. Er kommt meist allein, tut so, als würde er arbeiten, ehe einer seiner Klienten auftaucht und er etwas zu hastig seine Zeitung weglegt. Manchmal isst er dann mit seiner Verabredung auch zu Mittag. Allerdings kann man die Speisen hier eher vergessen. Es schmeckt einfach nicht. Zwar sollen hier im Café noch irgendwo im hinterletzten Eck italienische Wurzeln vorhanden sein (wie wohl bei der Hälfte der argentinischen Bevölkerung), aber kochen, nein kochen können sie hier wirklich nicht.

„Wünschen Sie noch etwas, mein Herr?“ Der Kellner reißt mich aus meinen Gedanken. Nun ja, vielleicht noch einen Kaffee. Mein Blick schweift durchs Fenster auf die Straße. Den ganzen Vormittag lang ist hier Stau. Stop, Go, Stop, Go. Begleitet von Hupen, Schimpftiraden. Zwischendrin sieht man auch zahlreiche Fußgänger, die sich durch den Parcours schlängeln. Heute sind auf der Plaza Moreno keine pausierenden Arbeiter zu sehen, dafür liegen zwei Obdachlose mit kleinen Stapeln Pappe auf den Steinbänken in der Sonne.

medialunasVordergründig kein guter Platz, um den Tag (oder die Nacht) zu verbringen. Verkehr wohin man schaut, Abgase, Menschenmassen, die sich rund um das Nadelöhr Saenz Peña, Hipólito Yrigoyen und Avenida de Mayo (führt zur Casa Rosada) bilden.

Wahrscheinlich haben übereifrige Polizisten die beiden vom größeren und ruhigeren Kongress-Platz vertrieben. Hier dagegen nimmt kaum jemand von ihnen Notiz.

Inzwischen hat Maria den Raum betreten. Wie immer neigt die hübsche Literaturstudentin ihren Kopf leicht zu Seite, wirft ihre schwarzen Haare nach hinten, lacht, winkt dem Ober und dem übrigen Personal zu und setzt sich zufrieden mit sich und der Welt auf ihren Platz zwei Tische neben der Eingangstür. Unter dem Arm hat sie die Arbeitsmaterialien für ihre Schüler, die jeden Augenblick eintreffen dürften. Auch sie lässt den Blick schweifen. Ein tuschelndes Pärchen in der Ecke, der dicke José angestrengt geschäftig mit seiner Begleitung debattierend, zwei ältere Damen, die mit ihren riesigen Kuchenbergen kämpfen. Der permanent laufende Fernseher füttert uns mit Nachrichten und als Maria mich erblickt, winkt sie erneut. Ich kenne sie vom Sehen, habe aber noch nie wirklich mit ihr gesprochen. Das ändert sich auch heute nicht. Gerade als ich aufstehen will, steuern zwei Amis auf Marias Tisch zu. „¿Como estas, Maria?“, nuscheln die beiden in tiefstem Südstaaten geprägten Spanisch. „Bien, bien, gracias. ¿Y ustedes?“

Satz mit X, jetzt ist sie erst einmal die nächsten 90 Minuten mit „ser“ und „estar“ beschäftigt und meine Zeitung neigt sich bedrohlich dem Ende entgegen. Ich könnte jetzt natürlich am Kiosk gegenüber der Bibliothek am Kongress noch schnell ein paar weitere kaufen, aber ich vertröste mich, dass ich sie hier sicherlich in den nächsten Tagen wieder treffen werde. Auch wenn sie nicht ganz so zuverlässig erscheint wie Rotmantel und Dickbauch, ein-, zweimal pro Woche lehrt sie hier Ausländern argentinisches Spanisch. Die Chancen auf ein Wiedersehen stehen also mehr als gut und vielleicht kommen wir ja dann ein bisschen zum Reden. Wenn das kein Grund für gute Laune ist.

IMG_8822Zwei Tage später, Mittwoch, ist alles so wie immer. Ich gehe von der Belgrano rüber zum Zeitungskiosk, bleibe kurz auf einen Schwatz und einen Mate mit Manuel, dem Sohn des Kioskbesitzers, stehen – es geht ein bisschen um Politik und wie sie es doch immer wieder schafft, den Karren eben nicht aus dem tiefen Dreck zu ziehen – und gehe die Saenz Peña hinunter in Richtung Frühstück.

Ich setze mich hin, schaue auf den Verkehr und warte. Es dauert ungewöhnlich lange heute. „Was wünschen Sie? Kaffee, Medialunas, einen Tostado…?“ Ein junges Mädchen schaut mich erwartungsvoll an, aber ich bin zu überrascht, um gleich zu antworten. Erst ihr „Möchten Sie die Karte?“ bringt mich zurück in die Realität. Nein, nur Milchkaffee und Medialunas. „Fett oder Butter?“ Butter natürlich. Ich bin verwirrt, frage aber nicht mal, was mit „meinem Kellner“ los ist. Bestimmt ist er nur krank oder hat Urlaub. Ab morgen ist sicherlich wieder alles wie gewohnt.

Ich bin ein wenig verwirrt. Und diese Verwirrung besteht die nächsten Tage fort, ehe sie in Pragmatismus umschwenkt. Schließlich weicht alles einer stillen Trauer. Zwar bekomme ich inzwischen wieder mein Frühstück ohne zu bestellen, meinen Kellner habe ich bis heute allerdings nie wieder gesehen.