Gebt mir einen Balkon, und ich werde Präsident!

Ein anschauliches Beispiel ecuadorianischer Politik liefert die Laufbahn des fünfmaligen Staatspräsidenten Velasco Ibarra, nach dem mittlerweile eine Stadt im Norden des Landes benannt ist. 1934 erhob sich der charismatische Volksführer erstmals zum Präsidenten, sah sich jedoch weniger als ein Jahr später gezwungen, ins Exil zu gehen, weil er erfolglos versucht hatte, den Kongress aufzulösen. Generell zeichneten sich die Staatsführer zu jener Zeit vor allem durch eine geringe Halbwertzeit aus. So lenkten zwischen 1911 und 1940 insgesamt 59 Präsidenten die Geschicke des kleinen Andenstaates Ecuador, bevor 1944 ein Volksaufstand den heimgekehrten Ibarra erneut ins Präsidentenamt spülte. Zwei Jahre später musste sich dieser jedoch erneut ins Exil zurückziehen, weil er erfolglos versucht hatte, die Verfassung außer Kraft zu setzen, woraufhin er von seinem Verteidigungsminister festgenommen wurde.

Sechs Jahre später stand der Expräsident zum dritten Mal an der Spitze des Staates. Es sollte seine einzige regulär beendete Amtszeit werden. Nach einer kurzen Phase der Opposition wurde Ibarra, der es meisterhaft verstand, die Überzeugungen des Volkes demagogisch auszunutzen, im Jahre 1960 zum vierten Mal als Präsident vereidigt.

Ein Jahr später jedoch schickte ihn dieses Mal das Militär des Landes ins Exil, weil seine Reformwut der herrschenden Klasse zu weit ging. Nach seiner Rückkehr gewann Ibarra 1968 zum fünften Mal die Präsidentschaft – „Gebt mir einen Balkon, und ich werde Präsident!“ – und erreichte zwei Jahre später tatsächlich sein großes Ziel, die Verfassung außer Kraft zu setzen, um sich selbst diktatorische Vollmachten zu verschaffen. Kurze Zeit später wurde er in einem Staatsstreich seines Amtes enthoben und musste sich nach Argentinien absetzen; von wo er erst 1979 nach Ecuador zurückkehrte, jedoch bald nach seiner Heimkehr starb.

Die Geschichte Ibarras weist einige Ähnlichkeiten zur Geschichte Ecuadors auf. Der kleine Andenstaat ist ein Land, das über die besten Voraussetzungen verfügt und bereit ist, zäh und ausdauernd zu kämpfen, um nach oben zu gelangen, dessen Erfolge jedoch nie lange andauern, weil die übermäßige Gier der Herrschenden jeden echten Fortschritt hemmt.

Die Korruption hat Besitz von allen Sparten des öffentlichen Lebens genommen und durchzieht sowohl Politik als auch Polizei und Justiz. Den Reichtum des Landes, das über enorme Bodenschätze verfügt, Bananen, Kaffee und Kakao exportiert und sich über die Jahre eine gut funktionierende Erdölindustrie aufgebaut hat, teilen zwölf Prozent der Bevölkerung unter sich auf, während zwei Drittel der Einwohner kaum eine andere Perspektive besitzen, als sich mit befristeten Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten.

Vor diesem politischen Hintergrund beobachtete ich den Wahlkampf auf dem Wochenmarkt von Saquisilí, einer kleinen Stadt etwa zwei Fahrtstunden südlich von Quito.

Hier wurde mir alles Mögliche zum Kauf angeboten, und darüber hinaus auch vieles, das ich nicht für möglich gehalten hatte: Schokoriegel, Teppiche, Werkzeugkästen, rote Bananen, junge Hunde, übel riechende Schweinsköpfe – und vor allem: Meerschweinchen, die kulinarische Landesspezialität.

Der Markt war wohltuend chaotisch, bunt und lebensfroh, und die Verkäufer präsentierten mir ihre Waren, als seien diese die Lösung all meiner gegenwärtigen und zukünftigen Probleme, als stecke in ihnen die Weltformel schlechthin. Doch im Gegensatz etwa zu einem marokkanischen Basar, auf dem mir die Touristen wie Freiwild vorkommen, über das die Händler herfallen, als stürze sich eine Horde Rugby-Spieler auf das lederne Ei, blieben die Kaufleute in Saquisilí stets freundlich und zuvorkommend.

Und dann rollte unvermittelt ein verrosteter Lastwagen mitten durch das Marktgeschehen. Auf seiner Ladefläche tanzten etwa ein Dutzend kunterbunt gekleidete Musiker, die mit aller Kraft in ihre Trompeten und Posaunen bliesen, während der Präsidentschaftskandidat selbst Bonbons in die Menge warf und dabei bis über beide Ohren grinste. Die ganze Zeit über schrie der Fahrer des Lastwagens dabei irgendetwas in einen Lautsprecher, mit dem er wild aus dem Fenster winkte, seine Stimme, die nur mit Mühe die Musik übertönen konnte, überschlug sich dabei fast vor Begeisterung.

Was macht es da schon aus, dass der Mann auf dem Lastwagen vor zwei Jahren noch am rechten Rand des politischen Spektrums stand, jetzt aber als profiliertester Kandidat der Linken gilt? Oder dass der aussichtsreichste Kandidat für das Präsidentenamt überhaupt nicht in Ecuador lebt, sondern seinen Wohnsitz seit Jahrzehnten in den USA hat? „Ist doch egal. Wenn der Mann gewählt wird, kommt er schon zurück nach Ecuador“, schrie mir jemand auf meine Frage hin ins Ohr.

Info
Bei dem Text handelt es sich um eine gekürzte Version, entnommen der Reise-Anthologie „Zwischen den Orten“ von Thomas Bauer (Hrsg.), erschienen 2003 im Wiesenburg Verlag, Schweinfurt.

Foto: Katja Inderka