Eine Nacht im „telo“

Buenos Aires, Barrio Flores, nach stundenlangem Warten abwechselnd vor der Haustür und in der Bar gegenüber gebe ich auf. Meine Freundin Marcela wird heute wohl nicht mehr auftauchen, ihr Anrufbeantworter sagt auch beim dritten Mal nichts anderes, als daß sie definitiv nicht zu Hause ist. Halb zwölf nachts. Aus der geplanten, halbwegs verabredeten Übernachtung bei ihr wird nichts, ich muß mir wohl oder übel ein Hotel suchen. Hier in Flores, weit ab von den bekannten billigen Touristenhostels hilft nur die Auskunft eines Taxifahrers. Dieser schickt mich in eine Parallelstraße nachdem er mich ausgiebig gemustert hat, scheinbar erstaunt , daß ich ohne Begleitung unterwegs bin. Ja, in der Calle Leopoldo Lugones gibt es ein billiges und sauberes Hotel, sagt er grinsend.

Tatsächlich weist ein dezentes Neonschild auf das Hotel hin. Einen Namen hat es offensichtlich nicht, was soll´s. Ich bin zu müde, um mich zu wundern und will einfach nur ins Bett. An der Rezeption, einem kleinen Glaskasten, in dem ein älterer, Mann mit Brille sitzt, wird mir wortkarg ein Schlüssel hingelegt. Dreißig Pesos (knapp 60,- DM) soll das Zimmer kosten – Badewanne, Fernseher, Video und Minibar sei alles vorhanden. Ich bin einverstanden, weil es schon spät ist und ich keine Lust habe, weiter zu suchen. Sonderbar ist nur, daß es keinen Empfangsraum und keines der üblichen braunen Kunstledersofas neben kleinen Rauchertischen gibt, die sonst in Eingangshallen herumstehen. Unmittelbar hinter der Rezeption beginnt ein Gang, der mit dicken dunkelroten Teppichen ausgelegt in den zweiten Stock zum meinem Zimmer Nummer 216 führt. Aus den Zimmern dringen gedämpfte Fernsehgeräusche und Stimmen, gepaart mit dem Rauschen von Duschen und leisem Gelächter.

In der Luft liegt ein extremer Mischgeruch aus Putzmittel, Raumspray und frisch gewaschener Bettwäsche. Ich schließe die Tür auf und bin überrascht von der Raumausstattung.
Über dem riesigen Doppelbett hängt ein goldener Spiegel, auf dem Nachttisch liegen zwei-drei in Plastikfolie eingehüllte Badetücher, daneben stehen zwei Sektgläser und fett die Durchwahl für den Zimmerservice, mit einer ausführlichen Preisliste aller Getränke.

Alles wirkt wie gerade erst vor wenigen Minuten frisch bezogen – sonderbar um diese Uhrzeit. Als ich dann im Bett liege, durch die ersten Fernsehkanäle zappe und nur Softpornos sehe, geht mir langsam ein Licht auf: Ich bin in einem der berühmt, berüchtigten „telos“ gelandet. Einem der unzähligen, namenlosen Hotels in denen sich die Argentinier unbehelligt ihren Liebespraktiken hingeben. Nicht zu verwechseln mit Bordellen, treffen sich hier heimlich verliebte Jugendliche, Familienväter und -mütter mit ihren Geliebten und sonstige Paare, für die Sex im Elternhaus bzw. in der eigenen Wohnung Tabu ist.

Alle Bewohner der Gegend kennen das „telo“ (der Name ergibt sich aus dem mehrmals schnell hintereinander gesprochenen Wort Hotel, Hotelotelotelotelo>telo), die meisten von ihnen waren schon einmal in einem dieser „Einrichtungen“. Sofern sie es sich leisten konnten sogar in einem Zimmer mit Whirlpool, mit herzförmigem Bett oder üppig ausgestatteter Bar. Niemand bleibt die ganze Nacht, bezahlt wird immer im voraus, und Diskretion ist oberstes Gebot in den „Hotel-Alojamientos“, die oft, ähnlich wie in US-amerikanischen Motels, direkten Zugang zu den Zimmern über die Parkplätze bieten. Im erzkatholischen Argentinien, wo es immer noch undenkbar ist, daß ein Mädchen bei seinem Freund übernachtet oder umgekehrt, sind die „telos“ wichtiger Bestandteil des sozialen Miteinanders. Die Einrichtungen sind allgemein bekannt und geduldet, auch wenn sie die offizielle Moral untergraben. Die Hotels versuchen den Schein einer ganz normalen Übernachtungsmöglichkeit für Reisende zu wahren, profitieren am Ende aber von der scheinheiligen Doppelmoral der Elterngeneration, die ihre Kids dazu zwingt, auf unpersönliche desinfizierte „Teloszimmer“ auszuweichen.

Die Nachfrage ist groß, das Angebot dementsprechend vielfältig. Von den billigen Absteige in schlecht beleuchteten Gassen bis zum verspiegelten Hyatt-Verschnitt gibt es alles. Die Ausstattung, das Ambiente, die luxuriösen Extras schlagen sich im Preis nieder. Die Zimmerpreise, entweder pro Stunde oder für die ganze Nacht variieren zwischen 20-150 Pesos. Wer Parkbänke und Autorücksitze satt hat oder den Kick im eigenen Schlafzimmer vermisst, spart schon mal die ganze Woche fürs „telo-Abenteuer“. Teurer Spaß, das „Hacer el amor“ in Argentinien.