Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug IX)

Mein Aufenthalt in Südamerika neigte sich dem Ende zu. Er war herausfordernder und erfüllter als alles gewesen, was ich zuvor erlebt hatte. Doch ich wollte diese Region nicht verlassen, ohne an einem typisch südamerikanischen (Männer-)Vergnügen teilgenommen zu haben und einen weiteren Blick in die bunte, geschundene und lebensfrohe Seele dieses Subkontinents zu werfen.

„Du willst doch nicht etwa DORTHIN?“, fragte der Taxifahrer entgeistert, als ich ihm mein Ziel nannte. Die Nacht saugte das letzte Licht aus den Pfützen, als wir durch die Straßen der Hauptstadt fuhren. Im Verlauf unserer Fahrt mussten wir immer öfter Bodenunebenheiten ausweichen. Mehr und mehr Müll türmte sich auf den Gehwegen. Putz bröckelte von den Häusern. Die Gesichter entgegen kommender Passanten sahen von Mal zu Mal finsterer aus. Unvermittelt hielten wir vor einem unscheinbaren Gebäude. „Hier also ist es“, sagte der Fahrer wie zu sich selbst. Er zögerte, blickte prüfend an mir herab. Dann beugte er sich zu mir herüber, packte mich mit der rechten Hand am Arm und brachte sein Gesicht direkt neben meines. „Wenn dir da drinnen was zustößt, dann rufst du mich an, captas? Auf die Polizei kannst du dich bei so etwas nicht verlassen!“ Dann erst ließ er mich aus dem Taxi steigen.

Die Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien
Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

Erhältlich beim Autor über
www.literaturnest.de

Ort und Datum des Ereignisses hatte ich über mehrere Ecken erfahren. Ich wusste, dass es unklug wäre, das Bevorstehende beim Namen zu nennen. Hay evento hoy?, „Findet heute eine Veranstaltung statt?“, fragte ich darum einen bulldoggenähnlichen Pförtner, der das Testosteron aus jeder Pore seines Körpers schwitzte. Die Bulldogge ließ ein kehliges Grummeln hören und nickte mit dem Quadratschädel in Richtung einer Eingangstür. Ich betrat einen Raum, der wie ein Schnellrestaurant aussah. Ganz hinten, am anderen Ende des Raumes, war eine dunkelgrüne Tür angebracht. Wie selbstverständlich lief ich auf den eigentlichen Eingang zu, fand unterwegs noch Zeit, einer Vierergruppe Hähnchen essender Männer betont lässig zuzuwinken, dann wiederholte ich meine unverfängliche Frage vor einem weiteren Türsteher, der wie der Zwillingsbruder des vorherigen aussah. Die beiden mussten lange Zeit ihres Lebens mit dem Stemmen von Eisengewichten verbracht haben. Ihre Muskeln reichten ihnen bis unters Kinn. Einen Hals, der normalerweise für den nötigen Abstand zwischen Kopf und Rumpf sorgte, suchte ich bei den beiden vergeblich.

Auf meine Frage hin ließ der Muskelhaufen vor mir ein Brummen vernehmen, das dem seines Kumpans nicht unähnlich war. Vermutlich war er der Stärkere der beiden; darum durfte er hier drinnen stehen, während sein Kumpel in der abendlichen Kälte Wache schieben musste. Der Halslose nickte einem Schild zu, das sich hinter ihm befand. Ich bezahlte zehntausend Pesos Eintritt, was umgerechnet etwa vier Euro entsprach und für hiesige Verhältnisse viel Geld war. Zwei im Vergleich zu den vermeintlichen Zwillingsbrüdern geradezu grazil wirkende Männer sprangen auf mich zu, durchsuchten mich grob nach Waffen und klebten mir einen Aufkleber auf den Pullover. Dann huschte ich durch eine dritte Tür, die sich hinter mir sofort wieder schloss.

Drinnen, durch die drei Türen von der Außenwelt getrennt war, liefen grob geschätzt zehn Frauen und zweihundertfünfzig Männer umher. Viele hatten krähende Hähne unter den Armen. Es roch penetrant nach Schweiß, Bier und ranzigem Fett. Eine Bar zu meiner Linken bot gegrilltes Hähnchen an. Die Männer waren in trinkfreudiger Stimmung; sie fieberten dem nahenden Ereignis entgegen, während sich die wenigen Frauen an die Arme ihrer zumeist jungen, breitschultrigen Begleiter klammerten und sich hier nicht ganz wohl zu fühlen schienen. Alle Anwesenden waren braunhäutig, schwarzhaarig, dunkeläugig – alle, außer mir.

Mein Plan hatte eigentlich darin bestanden, nicht aufzufallen. Doch hier, im Vorraum einer Hahnenkampfarena, in einem unscheinbaren Haus inmitten des berüchtigsten und erbärmlichsten Viertels von Bogotá, war das keine leichte Aufgabe. Ebenso gut hätte eine Gazelle versuchen können, unbemerkt durch eine Löwenherde zu huschen. Mein Blondschopf leuchtete aus dem Durcheinander trinkender Männer und aufgeplusterter Hähne heraus wie ein Signalfeuer. Ich wurde angestarrt, angerempelt, angemacht. Ein fetter Typ mit Brille deutete mit einem seiner Wurstfinger auf mich und rief etwas in einer Sprache, die er für Englisch hielt. Sein Kumpel, der direkt neben ihm stand, krümmte sich daraufhin vor Lachen. Das Wort dólares schien mir anzuhaften wie die Pechwolke, die über Donald Duck schwebt. Es gelang mir nicht, es abzuschütteln. Mono, mono!, zischelte, rief, lachte man mir von allen Seiten zu. Im Gegensatz zu den Nachbarländern bezeichnete man mich in Kolumbien nicht als gringo. Stattdessen hielt man ein kaum schmeichelhafteres Wort für mich parat: Mono heißt übersetzt soviel wie „Affe“ und bezeichnet einen zufällig zu Geld gekommenen Lebemann, der sich zu fein vorkommt, um sich die Finger mit harter Arbeit schmutzig zu machen. Offensichtlich wurden sämtliche Weiße automatisch dieser Kategorie zugerechnet.

In einer Situation wie der meinigen benötigt ein mono etwas wie eine günstige Fügung, die ihn aus dem Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit reißt und ihn zu einem fast normalen Besucher macht. In meinem Fall drehte sich die günstige Fügung zwei Meter vor mir um, stemmte die Hände in die Hüften und fragte: Veniste de lejos, verdad?, „Du kommst von weit her, oder?“

Marleny war eine der knapp zehn anwesenden Frauen und vermutlich die einzige, die regelmäßig hierher kam. Ihr Mann besaß eine Farm mit siebzig Hähnen, die er eigens für die Kämpfe züchtete, droben in den Bergen um Bogotá. Marleny zog mich wie eine Trophäe hinter sich her. Sie führte mich zu einem Tisch, an dem ihr Mann Pedro mit einem Hahn saß. Sie nahm ihm das Tier ab, damit Pedro mir seine riesige Pranke hinhalten und mir unter den buschigen Augenbrauen einen freundlichen Blick zuwerfen konnte. Daraufhin hob er ein Klappmesser vom Tisch, bedeutete seiner Frau, den Hahn festzuhalten und trennte dem Tier mit einem sauberen Schnitt die Hinterkralle ab. Der Hahn zuckte zusammen und schlug wie wild mit den Flügeln, während sein Blut auf den Tisch und den Fußboden tropfte.

Pobrecito, „der Arme“, kommentierte Marleny völlig teilnahmslos, „das ist, als würde man dir einen Finger abschneiden.“ Sie schlug mit der Handkante auf meinen Daumen und ließ ein kehliges, wenig damenhaftes Lachen hören. Unterdessen hatte ihr Mann eine Kerze angezündet und tropfte heißes Wachs direkt in die Wunde des Hahns, um den Blutfluss zu stillen. Beim ersten Tropfen zischte das Blut, ab dem fünften begann sich eine dünne Wachsschicht auf die Wunde zu legen. Jetzt zog Pedro zwei lange, aufwärts gebogene Nadeln hervor, die er dem Tier mit Klebeband auf die Wunden band.

„Normalerweise kämpfen Hähne nur, um ihre Rangordnung zu klären. Sie haben kein Interesse daran, sich gegenseitig zu töten“, erklärte mir Marleny. „Darum kleben wir ihnen Rasierklingen oder Nadeln an die Beine, mit denen sie ihren Gegner durchbohren oder zumindest so lange bearbeiten können, bis er verblutet. Wenn sie aufgebracht sind, zielen Hähne mit den Krallen auf den Körper ihres Gegners, während sie mit den Schnäbeln auf Kopf und Hals einpicken. Es geht hier um viel Geld, hombre, da brauchen wir eindeutige Sieger. Sonst säßen wir ja in zwei Tagen noch hier!“

Kaum war Pedros Hahn präpariert, ertönte eine Durchsage, die ich nicht verstand. Marleny sprang so abrupt auf, dass der Hahn in ihren Händen vor Schreck auf den Tisch machte. „Es geht los!“, übersetzte sie die Durchsage frei. In ihre Augen trat ein besonderer Glanz. „Mann, das ist immer wieder spannend, egal wie oft du es schon erlebt hast!“

Ab diesem Moment stand ich nicht länger im Mittelpunkt des Interesses. Alles drängte zur Kampfarena, einem kreisrunden Platz aus Sand. Wie eine Überschwemmung ergoss sich die Menge in die Arena. Jeder versuchte, einen der besten Plätze ganz vorne zu erwischen. Bier und Schnaps machten die Runde, heizten die Stimmung kräftig an. An einer Schnur wurden jetzt zwei Käfige mit präparierten Hähnen in die Arena gelassen, deren Eigner daneben traten. Ein überernährter Glatzkopf, ebenso breit wie hoch, mit Verachtung in den Augen und derart tätowierten Armen, dass man kaum noch die ursprüngliche Hautfarbe sah, spielte den Ansager.

„Macht sie heiß!“, rief er den beiden Besitzern zu, die daraufhin mit dunkelroten Wolldecken auf die Käfige einschlugen. Zwischen den Schlägen konnte man erkennen, wie die eingepferchten Hähne unruhig wurden. Sie sprangen hin und her, ihre Kämme schwollen an. Dann nahmen die beiden Züchter ihre Hähne in die Hände und gingen aggressiv aufeinander zu, um einen Angriff des jeweils anderen Hahns zu simulieren. Immer abwechselnd streckte einer seinen Hahn von sich und bewegte ihn von oben auf den Gegner zu. Die Tiere wurden aufgekratzt. Sie pickten nach den Köpfen ihres Gegenübers, plusterten sich auf und krähten um die Wette. Auf ein Zeichen des grobschlächtigen Glatzkopfs setzten die Eigner ihre Tiere einander gegenüber in den Sand und verließen die Arena. Die beiden Hähne, ein weißer und ein dunkelbrauner, stürmten aufeinander zu.

Um mich herum wirbelte ein unfassbarer Tumult auf. Heisere Stimmen riefen Leuten Zahlen zu, die atemlos durch die Reihen hetzten. Die Wetten begannen bei zehntausend Pesos und konnten schnell auf das Zwanzigfache steigen. Auch Marleny hatte das Fieber ergriffen. „Zwanzigtausend auf Weiß!“, brüllte sie einen Geldeinsammler an, der sich unter Großeinsatz seiner Ellbogen durch unsere Reihe kämpfte, „nein, dreißigtausend!“.

Es war ein entsetzliches Durcheinander, das die beiden Hähne noch wilder machte. Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Der weiße Hahn hatte den dunkelbraunen an die Wand der Arena gedrängt. Ohne Verstand pickte er mit dem Schnabel auf den Kopf seines Opfers ein. Dreimal wurde der Dunkelbraune vom Weißen in den Sand gedrückt, dreimal gelang es ihm, wieder aufzustehen. Seine Federn verteilten sich um den Kampfplatz. Die ersten Bluttropfen fielen in den Sand, vom Publikum mit triumphierendem Grölen kommentiert.

Während das Getöse um mich herum brodelte, kam mir unvermittelt in den Sinn, wie Francisco Pizarro und seine Gefährten im Jahr 1532 das Gefolge des Inkakaisers Atahualpa niedergemetzelt hatten. Auf der Suche nach Ruhm und dem sagenhaften Reichtum von Eldorado räumten die Eindringlinge aus Europa jeden aus dem Weg, der ihrem Vorhaben im Weg stand. Vermutlich hatten sie dabei ebenso blind auf die eigentlichen Einwohner Lateinamerikas eingedroschen wie jetzt der weiße Hahn auf den dunkelbraunen.

„Neeiiinn!“, schrie Marleny neben mir und presste beide Hände vor Ihren Mund. Der auf dem Boden liegende dunkelbraune Hahn hatte mit dem rechten Bein ausgeholt und dem weißen einen Schlag mit der aufwärts gebogenen Nadel versetzt. Für den Bruchteil einer Sekunde hielten beide Streithähne inne, und ich bemerkte, dass Hähne einen überraschten Gesichtsausdruck haben können. Einen Augenblick lang wussten beide nicht, was soeben geschehen war. Dann taumelte der Weiße einen, zwei, drei Schritte nach hinten, neigte sich weit nach rechts und machte einen Schritt zur Seite, um sich abzustützen. Auf der linken Seite färbte sich sein Gefieder rot. Da sah der dunkelbraune Hahn seine Chance gekommen. Abrupt richtete er sich auf, nahm Anlauf und flatterte kurz vor dem weißen auf, um ihn mit ganzer Kraft zu attackieren.

Simon Bolívar hieß der Mann, der zum Schreckgespenst der spanischen Eroberer werden sollte. 1812 vertrieb er die Besatzer aus Venezuela, kurz darauf eroberte er Kolumbien zurück. Die entscheidende Schlacht fand in Peru statt, wo einst auch das Ende des Inkareichs besiegelt worden war. 1824 wurde die spanische Armee in der Schlacht bei Ayacucho vernichtend geschlagen. Die Konquistadoren mussten Südamerika verlassen. Die mit der Befreiung einhergehenden Hoffnungen würden sich jedoch nicht erfüllen.

Der Testosteronspiegel in der Arena erreichte Rekordwerte, als der Dunkelbraune sein Opfer frontal anflog und den Weißen rücklings in den Sand warf. Marleny schrie dem Unterlegenen die übelsten Flüche zu. Sie nannte ihn einen Feigling, einen Totalversager und schwor, nach dem Kampf seine kross gebratenen Flügel zu essen. Um mich herum schrie, hämmerte und fauchte es. Bier spritzte aus Plastikbechern, mischte sich in den Gestank nach Schweiß und Gier.

„Zehn zu eins!“, brüllten die Geldeintreiber aus Leibeskräften. Mit hochroten Köpfen rannten sie durch die Reihen. Wer jetzt noch auf den Weißen setzte, bekam, falls dieser siegen sollte, die zehnfache Summe ausbezahlt. Doch darauf ging niemand mehr ein. Jeder hatte den Ausgang des Kampfes vor Augen. Der Dunkelbraune hatte sich mit dem Schnabel im Hals des Weißen verhakt. Immer wieder schlug er mit den Krallen auf den Hahn ein, dem bei jedem Schlag ein Zucken durch den Körper fuhr. Aufstehen konnte er nicht mehr. Sein Hals hatte sich dunkelrot verfärbt. Aus mehreren Wunden tropfte Blut auf den Boden. Langsam beruhigte sich die Menge um mich herum. Marleny setzte sich wieder neben mich. „Fast immer entscheidet sich der Kampf in den ersten fünf Minuten“, erklärte sie sachlich. „Die restliche Viertelstunde ist dann eher etwas wie ein rituelles Abschlachten.“

Unvermittelt fiel der weiße Hahn auf den Rücken und streckte beide Beine in die Höhe. Der Dunkelbraune hatte ihn tödlich getroffen. Einige Zuschauer ließen ein zufriedenes Lächeln sehen; viele andere blickten betreten zu Boden. Der dunkelbraune Hahn stakste jetzt, da die Aufmerksamkeit so plötzlich von ihm abgezogen worden war, verloren in der Arena herum. Er wirkte beinahe erstaunt, dass der Kampf schon vorbei war. Der tätowierte Ansager trat in die Arena, stupste den weißen Hahn mit dem Fuß an und machte ein übertriebenes Handzeichen. Mit der flachen Hand fuhr er an seinem Hals vorbei, als wolle er sich die Kehle aufschlitzen, um allen klar zu machen, dass der Kampf entschieden war.

„Verloren“, bemerkte Marleny trocken, und ich wusste im selben Augenblick, dass sie nicht den Hahn meinte, sondern ihr Geld. Beim nächsten Kampf würde sie doppelt so viel setzen. „Den Sieger braten wir nachher natürlich auch“, teilte sie mir wenig später mit. „Das Fleisch von Hähnen schmeckt am besten, wenn sie sich kurz vor ihrem Tod sehr angestrengt haben.“

Schon hatte der tätowierte Glatzkopf zwei neue Käfige mit Hähnen darin in die Arena gesenkt. Bis halb vier Uhr nachts würden über zwanzig Kämpfe ausgefochten werden. Jedes Mal tobte, johlte, grölte die Menge und feuerte ihren Favoriten mit aller Kraft an. Und ich tobte, johlte, grölte ab dem dritten Kampf mit, kreischte mit Marleny um die Wette und schrie den Hähnen Tipps zu – was, im Nachhinein betrachtet, an Dämlichkeit kaum zu überbieten war. In jenen Momenten jedoch kam mir das Leben selbst wie ein Kampf vor. Ob man wollte oder nicht, man musste kämpfen. Man musste seine Gegner niedermachen, um zu verhindern, dass man selbst von ihnen niedergemacht wurde. Und gleichzeitig war das alles ein Spiel, ein packendes, extremes, bei dem man ständig neue Einsätze machte und trotzig höher schraubte, wenn man einmal verloren hatte, vorangetrieben von der Hoffnung, dass es beim nächsten Mal besser klappen würde. Ich war mitten in einer hitzigen, männlichen, von Adrenalin und Lust erfüllten Welt, in der ich permanent versuchen musste, die Umstände zu meinen Gunsten zu verändern. Alle Mittel waren erlaubt, um gegen das Schicksal zu kämpfen, das ebenfalls mit allen Mitteln versuchte, mich zu vernichten. Am Ende blieben zwei Möglichkeiten übrig: Entweder würde ich zugrunde gegangen sein, oder ich war der strahlende Gewinner des Spiels.

Obwohl ich ebenso wie Marleny und alle Anderen in der Arena außer Rand und Band war und Dinge von mir gab, für die ich mich schämen würde, sobald ich diesen Raum verlassen hatte, entging mir nicht, dass sich die Stimmung ab dem fünften Kampf zu ändern begann. Ein breitschultriger Typ im Unterhemd, dessen rechte Schulter eine enorme Narbe aufwies, rempelte mich an, nahm, statt sich zu entschuldigen, seinen krähenden Gockel fester unter den linken Arm und sah mich herausfordernd an. Sein Blick flackerte vor meinem Gesicht. Anscheinend hatte er schon Einiges über den Durst getrunken. Wahrscheinlich suchte er nach einer englischen Bemerkung, die er für originell hielt. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, wurde er von einer Gruppe Jugendlicher an mir vorbei geschoben, die mir spöttisch ins Gesicht schauten.

„Männer“, rief mir Marleny von links ins Ohr, und es klang, als spräche sie von einer Krankheit. „Wenn sie gewinnen, trinken sie aus Freude. Wenn sie verlieren, trinken sie aus Frust.“ Sie verdrehte die Augen und machte eine wegwerfende Handbewegung.

Unterdessen nahmen die Wetteinsätze absurde Höhen an. Es ging nicht mehr um umgerechnet vier oder fünf Euro, sondern um vierzig oder fünfzig, was dem Monatsgehalt vieler Anwesender gefährlich nahe kam. Die Wetteintreiber rieben sich die Hände. Es würde eine gute Nacht für einige Wenige werden, und für viele Andere eine unfassbare Katastrophe. Manche würden sich innerhalb von Minuten um einen Schreibtisch, einen Fernseher oder um das Gehalt des kommenden Monats gebracht haben. „Das Problem bei den Leuten hier ist, dass sie ihre Grenzen nicht kennen“, analysierte Marleny, wiederum völlig emotionslos. Sie gäbe eine miserable Sportreporterin ab; ihre Zuhörer würden vor Langeweile einschlafen. Vielleicht war es auch einfach die Routine. Sie kannte all dies bereits und wusste, wie die Sache weitergehen würde.

„Gegen Mitternacht beginnen erste kleine Raufereien. Wenn ich dir in aller Freundschaft einen Tipp geben darf: Um ein Uhr, wenn die Schlägereien sich ausbreiten, solltest du nicht mehr in diesem Raum sein. Dein Aussehen ist einfach zu markant.“ Ich hatte bereits bemerkt, dass ich wieder in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken begann. In mir sahen die Anwesenden einen reichen Lackaffen, der kaum einen Finger rühren muss, um an Geld zu kommen, und dessen Bankkonto mehr Dollar oder Euro aufwies, als sie jemals in ihrem Leben sehen würden. Bislang rettete mich einzig und allein die Tatsache, dass sich jemand wie ich überhaupt alleine an einen Platz traute, der voll mit Leuten wie ihnen war.

„Das ist Betrug!“, zeterte ein kaum Zwanzigjähriger links von mir, und plötzlich lösten sich zwei breitschultrige Ordner aus der Menge und stürzten auf ihn zu. Einer der beiden drehte dem Jungen mit einer fließenden Bewegung den Arm auf den Rücken und führte ihn gekonnt durch die Reihen hindurch auf den Ausgang zu. Man sah, dass er Derartiges nicht zum ersten Mal erledigte. Mit Sicherheit gehörten die beiden Ordner einer paramilitärischen Vereinigung an und erledigten den Job hier nebenbei.

Mono, mono!, ertönte plötzlich eine raue Stimme rechts von mir. Ein verwahrloster Fünfzigjähriger mit Vollbart warf mir seine Alkoholfahne entgegen. Drei junge Männer in der Reihe vor mir, die gerade ein Wochengehalt verloren hatten, weil sie auf rostrot statt auf weiß gesetzt hatten, drehten sich genervt zu mir um. „You like this place?“, fragte einer der drei in herausforderndem Tonfall. Das brachte einen vierten dazu, sich ebenfalls zu mir umzudrehen. „What YOU do here!“, brüllte er und zeigte, als er das „you“ aussprach, mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf meine Brust.

Marleny warf mir einen besorgten Blick zu, was mich überraschte. Offensichtlich konnte sie doch Anteil am Schicksal Anderer nehmen. Es wurde Zeit für mich, die Arena zu verlassen. Die Aggressivität der Streithähne hatte sich mit jedem Kampf mehr und mehr auf die Menge übertragen. Als ich an der ersten halslosen Bulldogge vorbeikam, die noch immer dafür sorgte, dass keine ungebetenen Gäste in die Arena kamen, bemerkte ich, dass jemand ein neues Schild neben die Eintrittspreise gehängt hatte. No se admiten armas, stand dort mit krakeligen Buchstaben auf einem Stück Pappe. „Waffen verboten“ – inzwischen wusste ich, dass es sich dabei um eine sinnvolle Forderung handelte.